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Palais F*luxx

Online-Magazin für Rausch, Revolte, Wechseljahre

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Lesen oder Lassen?

Buchbesprechung: „Eine andere Zeit“

Worum geht es?
Die Schwestern Enne und Suse wachsen in den 70er-Jahren in Kamp, Mecklenburg-Vorpommern, auf. Enne, die Ältere, ist auf der Suche nach Erlebnissen und hungert dem Erwachsenenleben entgegen. Suse ist von Kindheit an kränkelnd und entwickelt sich zur ruhigeren, aber seltsamen der beiden Schwestern. Als Suse 1989 verschwindet und sich nie wieder meldet, gerät das Familiengefüge arg durcheinander und jedes Familienmitglied kämpft auf eigene Art mit dem Verlust – und auch mit den neuen Umständen, die die Maueröffnung mit sich bringt.

Warum sollte mich das interessieren?
Helga Bürster zeichnet auf verschiedenen Zeitebenen das Bild einer ganz normalen Familie zu Zeiten der DDR, samt West-Tante und West-Cousine, die gern den Sommer an der Ostsee verbringen und kaum wissen, wo sie ihre Ostmark ausgeben sollen.
An Suses Verschwinden erzählt die Autorin nicht nur einen Dorf-Kosmos, wie er in den 1970er-Jahren auch im Westen existiert haben könnte, sondern auch vom Bleiben, Verschwinden, Flucht und Sozialismus(un)treue.
Mit schnörkelloser Sprache zeichnet sie das Bild einer Familie, die sich liebt, aber nicht wirklich mag. Die zusammenhält, aber nicht wirklich gern zusammen ist. Die gemeinsam leidet und sich nicht helfen kann. Mit den Figuren erleben wir innere und äußere Kämpfe, die immer nachvollziehbar bleiben und nie ein genervtes Augenrollen ob der Gefühlsausbrüche bei den Lesenden. Oder die Mädchen, die nur bedingt etwas miteinander anfangen können und sich doch annähern – obwohl sie den Verwandtschaftsgrad eher als Pflicht ansehen, sich mögen zu müssen. Es ist das Schweigen und Verschweigen, die Angst vor der Aussprache untereinander und dem Eingestehen der eigenen Bedürfnisse, die das Werk zu dem machen: einem unspektakulären und fesselnden Roman, wenn auch ohne Spannung. Manchmal fast langweilig, doch bevor es ins Belanglose abdriftet, schafft Bürster es, die Leser*in wieder an Bord zu holen. Es bleibt natürlich auch das Interesse – kommt Suse wieder und wenn ja, was passiert dann?

Wer ist die Autorin?
Helga Bürster, geboren 1961, hat nach zahlreichen Veröffentlichungen für Rundfunk und TV, Sachbüchern und Hörspielen mit „Eine andere Zeit“ ihren zweiten Roman veröffentlicht.

Kostprobe:
Enne saß vor dem angefangenen Brief, starrte auf das Loch im Papier und wusste nicht weiter. Sie war sich gerade noch sicher gewesen, in dieser Nacht etwas zu Ende bringen zu können, das sie schon viel zu lange quälte. Nun machte Eddys Anwesenheit sie nervös. Dass sie, ohne ihn einzuweihen, mit dem Brief begonnen hatte, fühlte sich an wie Verrat. Dass Suse verschollen war, quälte auch ihn. Sie hatten nie darüber gesprochen. Sie hatten sich in einem Leben eingerichtet, in dem Suse noch herumgeisterte. Enne fragte sich manchmal, was aus ihnen hätte werden können, hätte Suse sich nur einmal gemeldet. Mir geht es gut, wir sehen uns im nächsten Leben. Oder die Nachricht von ihrem Tod. Gäbe es Gewissheit, säße sie jetzt nicht hier.

Sie mussten endlich mit der ganzen Sache abschließen, sie und Eddy. Nur war der für Veränderungen nicht zu haben. Warum auch. Dieses Leben zu dritt war doch gar nicht so übel. Sie kannten sich darin aus. Es war ihnen zur Gewohnheit geworden.

Helga Bürster: „Eine andere Zeit“, Insel Verlag, 250 Seiten, 12 Euro. Hier bestellen

Rezension: Simone Glöckler

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