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Palais F*luxx

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Lesen oder lassen?

Buchbesprechung: „Mutters Stimmbruch“


Worum geht es?
Ja, genau, worum geht es eigentlich in der surrealen Erzählung? Versuch einer stringenten Zusammenfassung der rund 120-seitigen Geschichte: Eine Frau – in der Erzählung durchweg „Mutter“ genannt – lebt allein in einem großen Haus. Ihr Mann hat sich früh vom Acker gemacht, die Kinder sind mittlerweile erwachsen und an anderen Orten zu Hause. Mutter plagen Zahnschmerzen, die von Tag zu Tag zunehmen. Es wird Winter und die Heizung funktioniert schlecht. Sie ruft die Handwerker, verwehrt ihnen aber den Zutritt zum Keller: Sie findet es unverschämt, dass sich die Männer „am Herz des Hauses vergreifen wollen“. Irgendwann fällt ihr der Vorderzahn heraus und das Hauptwasserrohr platzt, das Haus wird geflutet, sie schnappt sich das Radio, Geld und flieht im Bademantel. Das Erste, was sie am nächsten Morgen tut: Sie lässt sich alle verbleibenden Zähne ziehen. Dann bezieht sie eine Zweizimmerwohnung und beginnt ein anderes Leben (…)

Was kann es?
Ziemlich viel. Die Erzählung ist sprachlich präzise, tänzerisch und lakonisch. In ihrer Konstanz ist das wirklich beeindruckend und erzeugt einen Lesesog. Mich hat auch begeistert, dass das Surreale der Geschichte nicht überstrapaziert wird, sondern ausgewogen zwischen Realität und Fantasie pendelt. Was ist zum Beispiel dagegen zu sagen, den Heizungsraum als Herz des Hauses zu betrachten, in dem ein:e Fremde:r nichts zu suchen hat? Die Autorin spielt zudem mit Redewendungen, die wie poetische Überraschungsperlchen aufblitzen: „Das volle Haus hatte Mutter zu schaffen gemacht. Doch mit dem leeren Haus ist es ihr auch nie gelungen warm zu werden.“ Ist das nicht wunderbar? Und so geht es weiter in der Erzählung, die begleitet wird von zarten Zeichnungen der Illustratorin Katharina Greeven.

Was hat das mit mir zu tun?
Ich meine, in der Geschichte das Themenpaar Aus- und Aufbruch gelesen zu haben. Da ist eine Frau, die, aus welchen Gründen auch immer, eine sehr lange Zeit damit haderte, das Eigene zu leben. Sie muss sich erst mit aller Kraft entwurzeln – raus aus dem Haus, weg vom Garten, sich von den Zähnen trennen –, um neue, eigene Wurzeln schlagen zu können. Die Trennung vom alten Leben ist schmerzhaft, gewaltig und gleichzeitig befreiend. Es gibt diese Szene, da geht die Protagonistin ins Schwimmbad, steigt auf den Dreimeterturm und beginnt zu singen – ihre Stimme erfüllt die Halle. Ich finde das mutig und es erinnert mich daran, mein eigenes merkwürdiges und unkonventionelles Ich weiterhin zu bestärken und im übertragenen Sinn meine Stimme zu finden.
Gleichzeitig hat mich dieses Buch etwas traurig gestimmt. Weil ich aufgrund der nicht personalisierten „Mutter“ immer auch an meine Mutter denken musste – ich selbst bin nie Mutter geworden, eher eine liebevolle Stiefmutter in blassen Aquarelltönen geblieben. Ich dachte also an meine Mutter, ihre Sehnsucht, sich mit 78 Jahren die Erlaubnis zu geben, sie selbst zu sein, ihr Ich leben zu dürfen und doch oft die Kraft dafür nicht zu haben.

Warum sollte mich das interessieren?
Wenn Dich die etwas spröde, stakkatohafte Sprache nicht vom Lesen abhält und Du Sprachpoesie magst, liegst Du mit der Erzählung richtig. Auch wenn Du einen Hang zu Lakonie, Merkwürdigem und Gartenarbeit hast, wird Dir die Geschichte gefallen. Und wenn Du mal eine ungewöhnliche Mutter-Geschichte verschenken möchtest – go for it. Die Autorin Katharina Mevissen wurde 1991 geboren und ist bei Aachen aufgewachsen. Sie studierte Kulturwissenschaft und transnationale Literaturwissenschaft an der Universität Bremen und machte in Berlin eine Drehbuch-Ausbildung. Ihr Romandebüt „Ich kann dich hören“ (2019) gewann den Kranichsteiner Literaturförderpreis. Katharina Mevissen lebt und arbeitet in Berlin. Sie ist Mitherausgeberin der Publikation „Gesammeltes Schweigen“ in der Edition Zweifel.

Kostprobe:
„Mutter ist in die Jahre gekommen. Ihr Körper wird nicht mehr gebraucht, aber er ist immer noch da. Manchmal weiß sie nicht wohin damit. Er fühlt sich dann so groß und unüberschaubar an, dass sie meint, sie müsse überall anstoßen im Haus. Das sind die Tage, an denen es ihr nicht gelingt, ihre Zehen zu fassen oder sich zwischen den Schulterblättern zu berühren. Die Tage, wo sie ihre Ellenbeugen mit den Kniekehlen verwechselt. Sie hat nur wenige weiche Stellen. Mutter hat junge Beine und grobe Hände. Sie hat große Zähne, alte Brüste und feste Waden. Ihr Körper ist ungleich gealtert: An manchen Stellen ist er schon verwitwet, an anderen noch jugendlich, hier alleinstehend, da in den Wechseljahren, dort zeitlos.
Mutter wohnt auf hundertsiebzig Quadratmetern, allein, aber mit Telefonanschluss und Warmwasser. Inzwischen sind alle aus dem Haus: Erst ist der Vater gegangen, dann nach und nach die Kinder. Dabei war es Mutter, die hier nie hatte einziehen wollen. Das Haus ist mit ihr in die Jahre gekommen, ist älter geworden, aber nicht kleiner, sondern kälter. Im Winter heizt Mutter in den leeren Zimmern im ersten Stock ein und macht Licht. Das Obergeschoss ist dann voller heller, warmer Räume. Vor dem Schlafengehen macht sie wieder die Runde, löscht die Lichter und stellt die Heizkörper auf Null.
Als Kind hatte sie sich vorgenommen, Vater zu werden. Daraus wurde nichts: Mutter wurde Mutter. Es blieb dabei keine Zeit, um ab und zu mal Vater zu sein oder Single. Erst als die Kinder zur Schule gingen, hatte sie wieder Zeit für kurze Affären. Dann musste es schnell gehen. Sie verschlang ihre Geliebten an Vormittagen. Die Liebschaften verschwanden wieder. Und die Kinder wurden groß und gingen weg. Aber Mutter blieb Mutter und blieb da.“

Katharina Mevissen: Mutters Stimmbruch, Verlag Klaus Wagenbach, 112 Seiten. Mit 7 Monotypien von Katharina Greeven, 22 Euro Hier bestellen

Rezension: Anette Frisch

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