Buchvorstellung: „Rolien & Ralien“
Worum geht es?
Um ein Mädchen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, später um eine junge Frau, das/die nicht hineinpasst in die Welt, die es/sie umgibt. Das Kind ist anders, als seine Umwelt, seine Familie, seine Geschwister. Reich an Phantasie und früh von seiner Zuneigung zu Frauen geleitet, entwickelt Rolien eine Stimme in ihrem Kopf, Ralien. Ralien ist eine Komplizin des Wagnisses und der Unvernunft, des Zweifels und Aggression, die ihr Zwangshandlungen aufnötigt. Eine ständige Begleiterin, die dazu führt, dass Rolien zur Außenseiterin wird und wenig Anknüpfungspunkte mit anderen Kindern – und später mit Erwachsenen – findet.
Was kann es?
Daran erinnern, wie stark die Empfindungen von Kindern sind. Und dass auch wir so ein starkes, ausgeprägtes Eigenleben hatten. Erinnert man sich als Erwachsene an seine Kindheit, dann meist in Ereignissen. Vorkommnissen. Erlebnissen. Schwieriger ist es, die Gefühle zurückzuholen, das Innenleben, das einen ausmachte und bestimmte.
„Rolien & Ralien“ ist ein versponnener Roman. Nicht im romantischen Sinne, sondern im psychologischen. Es geht um Verortung in der Welt, um Suche und die Erfahrung des Außenseiterseins und Verlassenwerdens.
So sperrig sich das Buch an manchen Punkten lesen lässt, so schwer zugänglich es mitunter in den verschiedenen Stimmen ist, die aus Rolien heraus sprechen, so sehr gelingt es Josepha Mendels, daran zu erinnern, wie es sich anfühlt, Kind zu sein. Wie es sich anfühlt, der kleine, der vom großen Ganzen ausgeschlossene Mensch zu sein. Eine Person, der zur Selbstvergewisserung und gegen die Einsamkeit vor allem der Dialog mit sich selbst bleibt.
Warum sollte mich das interessieren?
Das Buch ist interessant, wenn die Lust da ist, dieses lang vergessene Innenleben, die kindlichen Gefühle von Gut und Böse, von Hoffnung und Enttäuschung wieder ins Bewusstsein zu holen. Nicht unbedingt ein schöner Prozess oder ein schönes Erlebnis, aber ggf. ein lohnenswertes.
Sonst noch was Besonderes?
Josepha Mendels wurde 1902 im niederländischen Groningen geboren. Für die damalige Zeit führte sie ein ungewöhnlich selbstbestimmtes Leben, ging nach Paris und vor den Nazis ins Exil nach London. Mit 46 Jahren bekam sie ihr erstes Kind – als Alleinerziehende. Sie schrieb journalistische Texte, 1947 erschien mit „Rolien & Ralien“ ihr erster Roman. Mit 72 debütierte sie als Schauspielerin. Sie wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, ihre Texte gehören zu den bedeutendsten der feministischen Literatur der Niederlande.
Wie ist es geschrieben?
Die Autorin pendelt zwischen einer extrem distanzierten Erzählstimme und dem Ich Roliens. Schlichter Satzbau gepaart mit großer literarischer Sprachgewalt von Klarheit und Sensibilität. Die Sprache spiegelt in ihrer Einfachheit und Direktheit die kindliche Welt, wodurch es Josepha Mendels bestens gelingt, die eigenen verschütteten Gedanken und Gefühle wach zu kitzeln.
Kostprobe
„Ein neues Spiel ist geboren. Die Bäume winken mit ihren Blättern, sie stimmen zu. Die Kühe muhen; es gibt doch immer so viel Überraschendes, wie der Klee, der plötzlich zwischen den Gräsern aufragt. Die Frösche quaken und Vögel zwitschern. Rolien hört all diese Geräusche. Das Leben ist herrlich. Mit Titi ist das Leben herrlich! Man kann alles mögliche finden. Ein neues Spiel. Kein heimliches Spiel. Das Warum-Spiel. Kein Mensch auf der Welt hat es bisher gespielt. Der eine muss etwas sagen und der andere mit „warum“ und demselben Satz antworten. Warum, endlos warum fragen. Bis der erste nicht mehr weiter weiß und zum Anfangssatz zurückkehren muss. Und wenn man dann die letzte Frage und die letzte Antwort wiederholt, begreift man mit einem Mal sehr viel. Die Augen von Titis Mutter sind so müde, weil sie fast immer auf Reisen ist und der Vater sie folglich nicht versteht. Reisen ist ermüdend, nicht wahr, und wenn sie nie zuhause ist, kann der Vater sie auch nicht verstehen. Man bekommt also solche Augen, wenn man viel unterwegs ist, man bekommt sie also nicht einfach so? Aber was passiert dann unterwegs?
„Warum kriegt sie solche müden Augen?“
Josepha Mendels: „Rolien & Ralien“, Wagenbach, 192 Seiten, 22 Euro
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Rezension: Silke Burmester