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Palais F*luxx

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Die hatten wir uns anders vorgestellt

Nach der Wiedervereinigung zeigte sich: Die Vorstellung von Feminismus der Ost- und der West-Frauen unterschied sich fundamental. Simone Schmollack über die Kluft und die Enttäuschung, die bis heute nicht überwunden sind

Links: „Berühmte Frauen der Stadt Wiesbaden“: Christa Moehring, Malerin und Galeristin
Rechts: „Die Frauen von ORWO“: Doris Pieczynski, Mechanikerin



Seien wir einmal provokativ: Ostfrauen interessieren sich nicht für Umweltschutz und sind weniger sozial als Westfrauen. Dieser Eindruck entsteht, betrachtet man das Wahlverhalten der Frauen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt. In den beiden westdeutschen Bundesländern präferieren Frauen die Grünen (38 Prozent) und die Sozialdemokraten (39 Prozent). Im ostdeutschen Sachsen-Anhalt gaben Frauen vor allem der CDU (41 Prozent) ihre Stimme. Grüne und SPD kommen im Blickfeld ostdeutscher Frauen, zumindest der in Mittelsachsen, nur marginal (6 und 8 Prozent) vor.
Man könnte auch auf die Idee kommen, dass die Lebenssituationen und das Lebensgefühl von Ost- und Westfrauen auch nach mehr als 30 Jahren nach dem Mauerfall noch so unterschiedlich sind, dass die Präferenzen so unterschiedlich gesetzt werden.

Das Superwahljahr 2021 mit der Bundestagswahl und den zahlreichen Landtagswahlen, die sich durch das gesamte Jahr schlängeln, wirft nicht nur ein Schlaglicht auf die politischen Landschaften in der Republik, sondern auch auf die Unterschiede zwischen den Frauen in den sogenannten neuen und den alten Bundesländern. Und birgt folgende Erkenntnisse:
Ost- und Westfrauen sind auch mehrere Generationen nach der Wiedervereinigung recht unterschiedlich.
Und: Ostfrauen umrankt nach wie vor ein Mythos.
Von Emanzipationsikonen über Anpassungsweltmeisterinnen bis hin zu überlasteten Dreifacharbeiterinnen ist für sie an Zuschreibungen alles drin. Die Wahrheit, wie oder was „Ostfrauen“ nun wirklich sind, liegt wie so oft in der Mitte: Ostfrauen sind eine Mischung aus all dem, was über sie gesagt, geschrieben, gemunkelt wird.

Ja, Ostfrauen sind emanzipiert (und häufig emanzipierter als Westfrauen). Ja, sie haben sich nach der Wende den neuen Gegebenheiten angepasst (und das leichter als Ostmänner). Und ja, sie waren dreifach belastet: Vollzeitarbeit, Kinder, Haushalt (und haben es weitgehend hingenommen).

Die West-Frauen galten als „Emanze“ – das klang unweiblich, so wollte keine DDR-Frau sein


Aber betrachten wir es genauer.
Nehmen wir nur Käte Niederkirchner, die in der TV-Dokureihe „Ostfrauen“ (2019, rbb und MDR) sagte: „Emanze, das klang so, so … so unweiblich, so eine wollte ich nie sein.“ Niederkirchner war damals 75, in der DDR Kinderärztin, unabhängig und selbstständig – und eben doch eine Emanze. Nimmt man der Vokabel den abwertenden und despektierlichen Charakter, bleibt ein weibliches Streben nach Freiheit, Unabhängigkeit und Glück zurück, das insbesondere Frauen aus der ehemaligen DDR nachgesagt wird.
Niederkirchner beschreibt mit ihrem „Emanzen“-Satz das Phänomen recht treffend: Emanzipation war für die meisten Frauen im Osten kein Thema, weil sie emanzipiert lebten: Sie hatten einen Beruf, verdienten eigenes Geld, bekamen Kinder, wann sie wollten, und ließen sich scheiden, wenn sie mit dem Mann nicht mehr glücklich waren. Denn auf das Glück warteten sie nicht, sie nahmen es sich einfach.

Links: Dr. Annette Winkler, Unternehmerin des Jahres 1991
Rechts: Karla König, Leiterin der Berufsausbildung

Das konnten sie, weil ihre finanzielle Unabhängigkeit, Beziehungen und Ehen von ökonomischen Abhängigkeiten und Zwängen befreite. Frauen und Männer fanden aus Liebe zusammen und blieben Paare, solange die Liebe brannte. Mit einer Scheidungsquote von fast 40 Prozent war die DDR Scheidungsweltmeisterin, 70 Prozent der Trennungen gingen von Frauen aus.

„Ich wollte niemals von einem Mann abhängig sein“, sagt Regine Sylvester, ebenfalls Protagonistin im Film. Die Journalistin, Jahrgang 1946, eine Tochter, hatte zahlreiche Beziehungen und ließ sich scheiden, als das mit der Liebe nicht mehr so klappte. Weil sie mehr verdiente als der Mann, musste sie die Scheidung bezahlen: 70 Ostmark. Oder anders ausgedrückt: Selbstbewusstsein als das neue Lebensgefühl.
Dieses Lebensgefühl wird heute mittlerweile infrage gestellt, vor allem von Westfrauen. So sagte eine Westfrau bei einer Bundesfrauenkonferenz der Grünen 2018 in Leipzig: „Ich will Ihre gute Laune ja nicht stören, aber mich regt die Mythologisierung der Ostfrauen total auf.“ Was war passiert? Einige Frauen hatten gerade von ihrem Leben in der DDR erzählt, von ihren Müttern und Großmüttern und wie diese den Jüngeren vorlebten, dass Erwerbsarbeit so selbstverständlich war wie der Wunsch nach Kindern, die selbstredend in die Kita gingen. Es flogen Zahlen durch den Raum, die die Emanzipation und Selbstständigkeit von Ostfrauen belegen sollten, politische Einschätzungen und Entwicklungen seit der Wende. Und dann dieser Satz. Stille. Irritierende Blicke.

Die Ost-Frau: keine Ahnung von Feminismus


Die Frau schaute sich um und erzählte: Kurz nach der Wende sei sie aus beruflichen Gründen mit der Familie aus dem Westen in den Osten gezogen. Sie hatte sich darauf gefreut, zu erleben, was im anderen Teil Deutschlands vor sich ging. Vor allem aber war sie – als Feministin – neugierig auf die Frauen aus dem Osten und den emanzipatorischen Schwung, den sie aus allen Zeitungstexten über die DDR herauslas und aus allen Erzählungen heraushörte. Sie hatte das Bild von Kämpferinnen im Kopf, von Frauen, die Widerworte geben, um ihre Rechte ringen, die angriffslustig sind. Aber dann traf sie auf graue Gestalten, die von ihrem Alltag gestresst waren und den Männern im Haushalt nichts abforderten, die keine Ahnung vom Feminismus hatten und statt gelassen eher verbittert waren.
Was soll daran bewundernswert, emanzipiert sein? Sehen so Vorreiterinnen in der politischen Auseinandersetzung um gleiche Rechte aus, im Kampf für Abtreibung und mehr weibliche Sichtbarkeit?

Manche Frauen rutschten auf ihren Stühlen hin und her, Raunen, Arme schnellten in die Höhe, jede wollte etwas sagen. Aus manchen brach es förmlich heraus: Wir mussten nicht um unsere Rechte kämpften, wir hatten sie einfach. Wir konnten uns vom Partner trennen, wenn wir das wollten, und hingen nicht – wie viele Frauen aus dem Westen – in männlicher Abhängigkeit fest. Kitas mögen von 6 bis 18 Uhr geöffnet gewesen sein, weil Frauen ihre Arbeitskraft voll dem Staat zur Verfügung stellen sollten, aber wir konnten eben arbeiten, auch in leitenden Positionen. Insgesamt hatten Frauen im Osten, so das Fazit, gegenüber Frauen im Westen eben doch einen emanzipatorischen Vorsprung: Während Ostfrauen weitgehend gleichberechtigt lebten, ohne darüber in jeder Sekunde nachzudenken und das zu theoretisieren, hatten Westfrauen zwar feministisches Basiswissen, in der Regel aber keine Chance, das in die Realität umzusetzen.

Links: Sybille Niemöller, Schauspielerin und Schriftstellerin
Rechts: Margit Pittner, Leiterin der wissenschaftlichen Bibliothek

Solche und ähnliche Debatten hatten Frauen aus Ost- und Westdeutschland unmittelbar nach der Wende geführt, Interessierte an Frauenpolitik kennen sie in- und auswendig. Die Journalistin Ulrike Helwerth hatte bereits kurz nach der Wende gesagt: „Westfrauen sind arrogant, wissen alles besser, sind kinder- und männerfeindlich, dogmatisch und intolerant. Ostfrauen sind angepasst, biedere Muttis, männerfixiert und kein bisschen radikal.“

Der Irrglaube, dieselbe Diskriminierungserfahrung zu haben

Jedes Mal, wenn in den 90er-Jahren Frauen aus den verschiedenen Teilen Deutschlands aufeinandertrafen, hagelte es Vorwürfe. Sie warfen sich gegenseitig ihre Biografien vor und moserten, die andere Seite verstände so vieles nicht, weil das eigene Erleben fehle. Das Dilemma schien klar: Frauen vereint im Glauben, dieselbe Diskriminierungserfahrung zu haben, stellen irritiert fest, dass das mitnichten so ist. Recht schnell stellten sie fest, dass Diskriminierung durchaus unterschiedlich empfunden werden kann und dass die Frauen einander vollkommen fremd waren. Mehr noch, sie hatten nicht dieselben Ziele. Diese Differenzen, die unlösbar erschienen, machten die Frauen sprach- und hilflos. Das Gefühl der Frauen aus dem Osten, auf Arroganz und Besserwisserei zu treffen, war so folgerichtig und berechtigt wie der Ärger der Frauen aus dem Westen über das fehlende feministische Bewusstsein, das es nach der Wiedervereinigung der Regierung leicht machte, etwa das Abtreibungsrecht zu verschärfen.

Dieses Dilemma existiert in Restteilen heute offenbar immer noch. Und das nicht trotz, sondern obwohl über 30 gemeinsame Jahre ins Land gegangen sind. Allerdings mit Verschiebungen auf beiden Seiten: Mütter im Westen arbeiten heute öfter denn je Vollzeit, Mütter im Osten bleiben „wegen der Familie“ schon mal länger zu Hause. Der einst fremde Erlebnishorizont ist eingedrungen ins persönliche Leben.

Dennoch unterscheiden sich ost- und westdeutsches Verständnis von Emanzipation nach wie vor, aber es steht sich nicht mehr konträr gegenüber, vielleicht noch schräg zueinander. Das zeigt sich allein in dem Satz „Das Private ist politisch“. Für viele westdeutsche Frauen, insbesondere für jene der sogenannten 68er-Generation, eine Selbstverständlichkeit; für nicht wenige ostdeutsche Frauen das Gegenteil von Emanzipation. Denn die einzige Sphäre, die in der DDR nicht politisch war, war die private. Diese freizuhalten von staatlicher Doktrin, war im ostdeutschen Sinne höchst emanzipatorisch.
Noch ein Wort zur mythologisierten ungebrochenen Erwerbsneigung der Ostfrauen. Die darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass deren Ziel nicht Emanzipation und eine neue Selbstverständlichkeit weiblicher Lebensentwürfe war. Der Staat braucht die Frauen ganz einfach, sie sollten in erster Linie sollten dem Arbeitsmarkt in der DDR zu Verfügung stehen. Den größten Anteil der Hausarbeit indes trugen dennoch die Frauen.
Aber Superweiber wollten Ostfrauen trotzdem nicht sein. Aber sie haben die Bundesrepublik stärker verändert, als es ihnen selbst bewusst ist. Mehr Westfrauen (mit Kindern und ohne Kinder) gehen arbeiten, die Kita-Frage ist Chefinnensache geworden, Männer nehmen Vätermonate.

Fragt man Lutz Pehnert, den Autor und Macher des Films „Ostfrauen“, wo die stärkste Annäherung von Ost- und Westfrauen stattgefunden hat, findet er eine nüchterne Antwort: „In der Politik. In dem Fakt, dass sie dort weniger geworden sind.“ Der Frauenanteil allein im deutschen Parlament ist mit der Bundestagswahl 2017 auf unter 31 Prozent gesunken. Das sind so wenig Frauen wie zuletzt vor zwanzig Jahren.

Und wie stellen sich Ostfrauen nun den idealen Mann vor? Protagonistin Regine Sylvester sagt: „Fürsorglich, witzig, sexy.“ Wer fürsorglich ist, kümmert sich um die Familie, Witz verspricht Intelligenz, sexy steht für Ich-sorge-für-meinen-Körper. Sylvester sagt: „Ich finde, die drei Dinge sind nicht so schwer.“ Da hat sie Recht.

LInks: Kim Engels, Krimiautorin
Rechts: Birgit Keller, Chemiefacharbeiterin

Simone Schmollack, 1964 in Ost-Berlin geboren, arbeitet als Journalistin seit 2009 in verschiedenen Positionen für die taz. Ihr Themenschwerpunkt sind Frauen, Gender und Ostdeutschland. Sie hat bislang sieben Bücher veröffentlicht, davon zwei zum Thema DDR bzw. zu der Beziehung zwischen Ost- und Westdeutschland. Mehr Infos zu Simone in ihrem Wikipedia-Eintrag, ihre taz-Texte findet Ihr hier.

Die farbigen Bilder stammen aus Ruth E. Westerwelles Serie „Berühmte Frauen der Stadt Wiesbaden“, die Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus ihrem Buch „Die Frauen von ORWO“. Darin porträtiert Westerwelle zusammen mit Angelika Behnk die Filmfabrik „Original Wolfen“, der als „Frauenbetrieb“ als DER Vorzeigebetrieb der DDR galt. Das Buch war Grundlage für eine Dokumentation des MDR über die Nachwendezeit, den Rückbau bei ORWO und ist noch antiquarisch erhältlich. Westerwelle hat beide Serien Anfang und Mitte der 90er Jahre fotografiert. Die Fotografin, Autorin, Kuratorin und Dozentin dürfte nicht nur eine der größten Sammlungen linksautonomer Publikationen der 60er, 70er und 80er Jahre besitzen, sie hat auch selbst über die Jahrzehnte den gesellschaftlichen Ist-Zustand fotografisch dokumentiert. Aufsehen erregte auch ihre Ausstellung „Die Frauen der APO“, die jene Frauen porträtierte, die den gesellschaftlichen Umbruch voranbrachten und begründeten, was heute selbstverständlich ist. Sie war die erste, die die Frauen aus der historischen Versenkung holte, all die damaligen Aktivistinnen namentlich recherchierte und nachwies, dass viele Aktionen, die den Männern zugeschrieben wurden, von den Frauen initiiert wurden. Ihre Arbeit zeigt dabei auch den spannenden Werdegang dieser aufmüpfigen Frauengeneration bis ins Alter. Ruths Website für Fotografie findet Ihr hier.

Weiterführende Infos zum Thema Deutschland Ost und West findet ihr hier: Deutsche Einheit: Neuland für Ost und West – eine Chronologie von NDR.de
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