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Palais F*luxx

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Danke, Mädchen mit den Erdnüssen

Am 22. November 2005 wurde Angela Merkel erstmals zur Kanzlerin ernannt. Zeit für Silke Burmester, sich zu bedanken

Seit 16 Jahren ist klar: Mädchen können Kanzler*in werden
Foto: Bundesregierung/Kugler

Heute vor 16 Jahren wurde Angela Merkel Bundeskanzlerin, die erste Frau in diesem Amt. Es fühlt sich an wie 30 Jahre und wieder gibt es eine Generation von Menschen in diesem Land, die nie eine andere Person in dieser Funktion erlebt haben als Angela Merkel. Als wir 16 Jahre alt waren, hatten wir Willy Brandt erlebt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl. Wir hatten eine Idee davon, dass Macht vom Volk geborgt ist. Dass sie nicht selbstverständlich ist, und wir hatten verschiedene Modelle vom Verständnis dieses Landes erlebt. Von den Ideen, die man dafür hat – oder auch nicht. Kohl blieb, genau wie Merkel, 16 Jahre im Amt und schon damals hätte man ernsthafter diskutieren sollen, ob es nicht sinnvoll wäre, die Zeit für diese Position zu begrenzen.

Als Angela Merkel am 22. November 2005 Kanzlerin wurde, war das dumpfe Biedermeier der Zeit von Helmut Kohl, Nicoles bisschen Frieden und der Schwarzwaldklinik zwei Legislaturen lang durchgelüftet worden. Es war, als hätte man den Pups unter der Bettdecke vertrieben, nun wehte oberhalb der Decke der beißende Wind der Agenda 2010. Und dann kam Angela Merkel. Wir kannten sie. Sie war die, die ein wenig unbeholfen unter Kohl zunächst das Amt der Bundesministerin für Frauen und Jugend, dann das der Umweltministerin bekleidete. Jugendministerin – was für ein Lacher. Wir waren damals die Jugend. Wir waren wild und ungestüm und machten verbotene Dinge. Und illegale. Und spielten in Bands. Und kotzten in die Ecke. 1994 hatte die Frau, die nun Kanzlerin wurde, im Spiegel SPEZIAL „Pop & Politik“ gesagt: „Auf Feten war ich immer unheimlich traurig, dass ich mich nicht in die Musik reinsteigern konnte. Ich war immer das Mädchen, das Erdnüsse isst und nicht tanzt.“

Sie wusste, sie braucht noch Zeit, Gerhard Schröder in die Ecke zu stellen

Und ja, sie war das Mädchen mit den Erdnüssen. Und wurde die mächtigste Frau der Welt. In dem letzte Woche erschienenen Porträtbuch, für das die Fotografin Herlinde Koelbl Angela Merkel über die Dauer von 30 Jahren fast jährlich fotografierte, zitiert Koelbl Merkel mit dem Satz, dass sie ihren Gegenspieler Gerhard Schröder „irgendwann in die Ecke stellen werde. Ich brauche dazu noch Zeit, aber eines Tages ist es so weit. Darauf freue ich mich schon“. Er scheint zentral, wenn man den Aufstieg dieser Frau verstehen will: unscheinbar in der Ecke, nicht der heiße Scheiß, aber klar im Ziel. Unbeirrbar. An sich glaubend.

Einbruch in die blaue Monokultur der Macht
Foto: Bundesregierung/Denzel

Eine Amtszeit, die einen ambivalent zurücklässt

Angela Merkels Jubiläum, das baldige Ende ihrer Amtszeit lässt mich ambivalent zurück. Ich glaube nicht, dass sie die Welt zu einem besseren Platz gemacht hat. Sie hat Schlimmeres verhindert, das mit Sicherheit, aber unter ihr ist die soziale Schere in Deutschland ebenso wie in der Welt weiter auseinandergegangen. Der Kapitalismus ist ungebremster denn je, das Klima kaputter denn je. Dass die Menschen ihren Glauben an die Demokratie verlieren, dafür kann sie meines Erachtens nach nicht mehr als für das Wetter. So hätte man das früher gesagt. Heute weiß man, dass auch das Wetter mittlerweile Ergebnis unseres Handelns ist. Und unserer Unterlassung. Also kurz und gut: Endergebnis leider nicht so doll, aber immerhin, 2015 die richtigen Worte gesagt und mit der Entscheidung, eine humanitäre Katastrophe zu verhindern und die Flüchtlinge, die in Ungarn nicht weiterkamen, einreisen zu lassen, mir diesen einen Moment in meinem Leben beschert, der mich stolz gemacht hat auf dieses Land.

Ihre größte Errungenschaft gilt unseren Töchtern und Enkelinnen

Und doch berührt mich dieser Jahrestag, der 22. November. Und ich bin dem Mädchen mit den Erdnüssen unendlich dankbar. Mit ihr hat die Schale des Patriarchats, die die Ebenen von Macht, Position und Einfluss umgibt, Risse bekommen. Risse, die mit der Zeit größer wurden und durch die die Äste der Bäume treiben, die unter der Schale wuchsen. Es ist, als wenn das Grün durch Asphalt bricht, Efeu durch Mauerwerk, Wurzeln die Gehwege zu Stolperfallen machen – am Anfang ist es nur ein einzelner Trieb, aber von unten wird er immer stärker und je stärker der Druck, desto mehr bricht die Oberfläche auf und desto gewaltiger breitet sich das Grün aus. Bis es sich seinen Raum genommen hat und ganz selbstverständlich Teil des Ökosystems ist. Wir Frauen, die Mehrheit der Menschheit und der Bevölkerung unseres Landes, sind noch immer nicht selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft. Der Mann als Norm sind wir noch immer die Abweichung. Die Ausnahme. Die Besonderheit. Das ist unbegreiflich, peinlich und beschämend. Und es ist erstaunlich, dass es so lange dauert, das zu ändern. So wenig Angela Merkel sich als Frau zu erkennen gegeben hat, so wenig sie sich erkennbar für Frauen eingesetzt hat, so elementar war doch ihre Kanzlerschaft für das, was ist und das, was kommt. Es ist fraglich, ob Ursula von der Leyen – als erste Frau – Präsidentin der Europäischen Kommission geworden wäre. Es ist fraglich, ob Annegret Kramp-Karrenbauer die Chance zum Scheitern als Parteivorsitzende bekommen hätte. Eines aber ist sicher: Mädchen können sich heute vorstellen, Kanzlerin zu werden. Angela Merkel hat ihnen ein Bild gegeben: Frauen sind Bundeskanzlerin. Wir wissen, Vorstellungen brauchen Bilder. Und vielleicht ist diese einfache Formel das bedeutendste Ergebnis der Kanzlerschaft vom Mädchen mit den Erdnüssen: dass Mädchen wissen, „ich kann Kanzlerin werden!“.

Weitere feministische Einordnungen der Ära Merkel hier im Beitrag von Titel, Thesen, Temperamente

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