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Palais F*luxx

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Treffen mit einer Bekannten

Natascha Geier trifft eine der eindrücklichsten literarischen Stimmen der Gegenwart: Virginie Despentes

Kamerafrau Nicole Foltys, Virginie Despentes, Natascha Geier, Foto privat, wie man unschwer sieht
Das Foto von Virginie Despentes auf der Startseite: JF Paga

Ich schreibe aus dem Land der Hässlichen und für die Hässlichen, die Alten, die Mannweiber, die Frigiden, die schlecht Gefickten, die nicht Fickbaren, die Hysterischen, die Durchgeknallten, für alle vom großen Markt der tollen Frauen Ausgeschlossenen. Und ich sage gleich, damit das klar ist: Ich entschuldige mich für nichts und ich werde nicht jammern. Ich würde meinen Platz gegen keinen anderen tauschen, denn Virginie Despentes zu sein finde ich viel spannender als alles andere.

Virginie Despentes, King Kong Theorie

Das ist eine Ansage. Kompromisslos, klar und kantig. So präsentiert sich Virginie Despentes auch auf Fotos: schwarzes Vintage Motörhead Shirt, cooler Blick – diese Frau ist Punkrock.
Sie ist genauso alt wie ich. Wir haben einen ähnlichen musikalischen Hintergrund und eine ähnliche Popsozialisation. Ich bewundere sie seit „Baise-moi“ („Fick mich“), ihrem Debütroman (etwas später von ihr selbst verfilmt), der sie zur berüchtigten Skandalfigur der französischen Literaturszene gemacht hat. Nicht nur, weil und wie sie schreibt, was sie schreibt, sondern auch, weil sie ihr Leben mit allen Brüchen öffentlich erzählt. Mit 17 beim Trampen von drei Männern vergewaltigt worden, zieht sie nach Paris und jobbt als Gelegenheitsprostituierte. Holt sich dadurch die Macht über ihren Körper zurück, wie sie sagt. Sie weigert sich, sich für die Prostitution und das Vergewaltigt-worden-sein zu schämen. Virginie Despentes dreht den Spieß um. Ihre Position: Pro Sex Feminismus. Sie kämpft gegen das Schmuddelimage von Porno und Prostitution. Selbstbestimmung, Selbstermächtigung, raus aus der Opferecke – das sind ihre Lebensthemen. Das ist für Männer, aber auch viele Frauen bis heute schwer auszuhalten. Virginie Despentes macht kein Geheimnis daraus, dass sie inzwischen queer ist und mit einer jüngeren Frau im Norden von Paris zusammenlebt. Lesbisch zu sein habe sie befreit, sagt sie.

Sie ist 49 – und sieht keinen Tag jünger aus

Mittlerweile ist die Querulantin im Establishment angekommen, als „la Despentes“ – Mitglied der Académie française, internationale Bestsellerautorin und eine wichtige Stimme in Frankreich. Sie scheut sich nicht, öffentlich anzuprangern, was es anzuprangern gibt: soziale Ungerechtigkeit, Rassismus, Sexismus und und und.
„Ich klage nicht direkt an, aber ich glaube, als Schriftstellerin ist es wichtig, zu kritisieren, zu beobachten, Dinge zu hinterfragen. Wie: Was ist das mit dem Patriarchat? Dem Neoliberalismus? Der Produktivität um jeden Preis? Ich klage nicht an – ich merke an.“
Das alles macht mich neugierig. Ich bin Fernsehredakteurin. Der Plan: Ich treffe sie für ein TV- Interview für „ttt“, im Frühjahr 2018. Freude, Aufregung – und dann: Enttäuschung. Das Interview in Paris wird nicht stattfinden. Absage. Virginie Despentes möchte doch kein Fernsehinterview machen. Ich storniere den Flug und ärgere mich.
Drei Monate später klopft der deutsche Verlag verlegen an: Ob ich immer noch Lust auf ein Interview hätte? Virginies feministisches Pamphlet „King Kong Theorie“ wird neu veröffentlicht, diesmal hätte sie bestimmt Zeit. Und das ganze Theater, das wäre nur gewesen, weil Frau Despentes eigentlich schüchtern sei.
Natürlich will ich. Und diesmal klappt es. Ich fliege mit meiner Kamerafrau Nicole nach Paris. Treffpunkt: der Plattenladen „Walrus“. Als sie kommt, erkenne ich sie auf den ersten Blick fast nicht. Punkklamotten? Nein. Virginie trägt eine damenhafte weiße Bluse mit schwarzem Rosenmuster zur schwarzen Jeans und einen kleinen Rucksack über der Schulter. Sie ist 49 und sieht keinen Tag jünger aus. Sie hat ihr Leben im Gesicht. Augenringe, die sie nicht überschminkt. Keinen Lippenstift. Und das für ein Fernsehinterview. Ich würde mich das wohl nicht trauen. Sie raucht ordentlich – und zwar schmale, weiße, ladylike Zigarettchen. Die gleiche Sorte, die meine Mutter raucht. Huch. Ihr Körper ist nicht vom Fitnessstudio gestaltet. Um ihre Taille trägt sie diesen kleinen Speckgurt, den sich die meisten Frauen in den Wechseljahren unfreiwillig zulegen. Sie ist eine Frau, die zu ihrem Alter, den Hormonen, der Veränderung steht – so scheint es zumindest. Sie spricht leise, hat eine tiefe, rauchige Stimme und ein tolles, ausgelassenes, dreckiges Lachen. Und sie lacht viel, auch mit den Augen. Virginie Despentes hat Freude an Provokationen, sprachlichen Volten, ist eine aufmerksame Zuhörerin, nachdenklich und reflektiert in dem, was sie sagt. Wir reden über Literatur, ihre eigene und die, die sie geprägt hat (Annie Ernaux zum Beispiel). Über Musik, und wie sehr Musikalität ihre Texte bestimmt und durchdringt (sie liest sich jede Seite laut vor, um zu hören, wie sie klingt). Über sie selbst als öffentliche Person.

Fernsehinterview und Prostitution – jeder darf mal ran

„Prostitution und Schriftstellerin-Sein ähneln sich. Weil das Spiel das Gleiche ist. Dieses Spiel bezieht sich auf deine Bücher, deine Gedanken, deine Welt. Sie werden käuflich. Jeder kann dein Buch kaufen und damit machen, was er will. Man gehört plötzlich allen. An mein allererstes Fernsehinterview habe ich nur traurige Erinnerungen – an meinen ersten Kunden dagegen nicht. Bei dem Interview habe ich das verloren, das, was mich wirklich ausmacht: mein Gesicht, meinen Namen. Ich fand es schwer, eine öffentliche Person zu werden. Heute habe ich damit meinen Frieden gemacht. Aber grundsätzlich ist die Prostitution nicht so verschieden von allen Formen von Arbeit. Was macht man für Geld? Man gibt etwas von sich weg.“
Als ich sie auf ihre Vergewaltigung anspreche, auf das, was vor der Prostitution war, sagt sie: „Was mich wirklich schockiert hat, nachdem ich vergewaltigt wurde: Ich dachte, ich sei die Einzige, der so was geschehen ist. Dabei ist es etwas ganz Alltägliches, das leider zum Frausein gehört – was ganz zentral ist. Die meisten Frauen kalkulieren die Gefahr ein, vergewaltigt zu werden, wenn sie das Haus verlassen. Es ist furchtbar – aber wir haben uns daran gewöhnt, unser Verhalten angepasst. Sexuelle Gewalt ist eine Art von Bürgerkrieg.“

Der Rechtsruck in Europa, das Erstarken nationalistischer Gruppen wie dem „Front National“ von Marine LePen. Die Angst vor dem Islam, den Hass auf Frauen, Queere, Minderheiten, Refugees – für Despentes stehen diese Entwicklungen im direkten Zusammenhang mit dem Neoliberalismus. Für sie die größte Gefahr für ein menschliches, humanes Zusammenleben.
„Woher kommt dieser Extremismus? Ich frage mich, ob der Neoliberalismus ihn nicht sogar schürt, um von den wahren Problemen unserer Zeit abzulenken? Tatsächlich ist doch das eigentliche Problem die soziale Ungerechtigkeit: die Anhäufung von Reichtum um jeden Preis, durch sehr wenige – und auf Kosten anderer. Alle haben Angst, dass ihre Kinder Pornos sehen“, führt sie aus „– was sie ohnehin im Internet tun. Aber ich finde es viel problematischer, einem Achtjährigen zu erklären, warum Flüchtlinge wochenlang auf ihrem Boot ausharren müssen und warum unsere Regierungen sie nicht aufnehmen wollen. Dagegen ist es doch einfach, ihm zu erklären, dass eine Frau gerade Dinge mit einer anderen Frau oder einem Mann macht.“

Älterwerden bedeutet, ich sage, was ich will

Wir reden über die Me-too-Bewegung und die Unterdrückung der Frauen. Und über das Älterwerden. „Das ist das einzig Gute am Älterwerden: Ich habe meine Ängste verloren. Jetzt sage ich, was ich will, mache ich, was ich will. Ich bin nicht mehr so abhängig vom Urteil anderer über mich – darüber, wie ich aussehe oder wie ich mich verhalte.“
Ich nicke, innen und außen. Es stimmt auch für mich, es ist mir nur bisher noch nie so aufgefallen: Auch ich habe heute weniger Angst als früher, als Zwanzigjährige zum Beispiel. Aber so kompromisslos wie Virginie bin ich nicht. Sie ist eine unerschrockene Punklady – auch in großgeblümter Bluse mit ordentlichem Kragen. Dass sie eigentlich schüchtern ist, habe ich ihr bisher nicht angemerkt. Doch als wir nach dem Interview noch nach draußen, auf die Straße gehen, um die sogenannten „Antextbilder“ zu drehen – also: Autorin überquert die Straße und so weiter –, da zeigt sie sich, die Schüchternheit. Plötzlich braucht Virginie Despentes klare Regieanweisungen gegen die Unsicherheit. Angeglotzt, ausgestellt wird sie nicht so gerne – und trotzdem macht sie mit. Null kapriziös, voll kooperativ. Dann: Au revoir. Wir drücken uns. Ich bin schockverliebt. Was für eine supertolle Frau, was für ein besonderer Mensch.

Die Bücher von Virginie Despentes erscheinen im Verlag Kiepenheuer & Witsch https://www.kiwi-verlag.de/autor/virginie-despentes-4001134 Zuletzt erschien dort die dritte und letzte Ausgabe ihres Bestsellers „Das Leben des Vernon Subutex“

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