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Palais F*luxx

Online-Magazin für Rausch, Revolte, Wechseljahre

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Na Fein!

Sylvia Heinleins Wochenjournal über die Stürme im Wasserglas des Alltags.
Diesmal: Scham & Moral

Drei Wochen lang führte ich das Leben eines Trolls, trieb mich nackt an einsamen Stränden herum, sammelte Steine, kaute auf Blättern, baute Höhlen und schwieg in den Wind. Zuhause zurück erwartete mich die Zivilisation mit Getöse und Ungemach. Was gibt es zu belauschen, wenn die Nachbarn ihren Garten pflegen? „Hallo?! Hallo?! Digger?! Digger, kommst Du?“, ruft die Frau ihren Mann. Digger sagt, dass er gleich kommt, aber so geht es nicht, denn „so-FORT!“ soll es sein, der Rasen will gemäht werden. Digger kommt also sofort, alles andere, weiß er, würde seine Lage nur noch verschlimmern. Der Rasenmäher ist ein Benziner, um ihn zu übertönen, muss die Nachbarin ordentlich brüllen. „HALLO! HALLO!“, muss sie brüllen. „HAAAALLO!“ Dann stoppt Digger und hört, was ist, nämlich irgendwas wie die Ecke da. Digger bekommt insgesamt viel Ansprache, deshalb habe ich mir richtig teure Kopfhörer gekauft. Die Kopfhörer produzieren auf Knopfdruck eine Stille, die fast so gut ist wie echte Stille. Außerdem geben sie mir das Gefühl, einem exquisiten Kreis von Hightech Gadget-Nutzer*innen anzugehören. Natürlich schäme ich mich für dieses Gefühl, und das teure Spielzeug.

Scham und auch Moral so generell sind aktuelle Themen, brisant, aufregend und wichtig. Ich bin gerne dabei etwas beizutragen. Hier bitte: gestern im schicken Nachbar-Stadtteil einen neuen Laden entdeckt. Von draußen zu erkennen: langer Tresen mit Leckereien, an den Wänden Weinregale. Ich befehle mir, das Geschäft unter keinen Umständen zu betreten. Aber auf meinem Konto liegen etwa 75.000 Euro (Rest in Aktien), das Sofa in meiner Altbauwohnung (fünf Zimmer, lichtdurchflutet, zwei Bäder, zwei Balkone) heißt Chester Moon und ich freue mich jedes Mal wie verrückt, wenn ich zurück in mein total aufgeräumtes Wohnzimmer komme, um dort irgendetwas Teures zu verspeisen. Genau deshalb muss ich jetzt mal sehen, was in der gläsernen Theke liegt, und sieh mal einer an: Ich brauche unbedingt ein Stückchen dieser Leberwurst da, einfach, weil sie so niedlich aussieht, in ihrem handgezwirbelten Naturdarm. Und da, den winzigen, cremigen Ziegenkäse brauche ich ganz sicher und einen Rotwein dazu, und ach, auch noch eines der Cellophantütchen mit drei mundgeblasenen Käsecrackern. Dann reiche ich einen Fuffi über den Tresen, bekomme etwas Kleingeld zurück und fahre benommen nach Hause, in meine kleine, unansehnliche Sackgasse. Dort trinke und esse ich nach Herzenslust und anschließend denke ich nach – über meinen schamlosen Drang, mich regelmäßig zu verhalten wie Gräfin Koks; über meine Sehnsucht, endlich ordentlich zur Rettung der Gesellschaft beizutragen; über meine häufige Orientierungslosigkeit, was das momentane moralische Denken betrifft.

Als ich gerade etwas ziemlich Abgewogenes zum Thema notieren will, sticht mich eine Wespe in den Zeigefinger. Aus Zorn über den Schmerz erschlage ich das Tier, danach wird mein Finger dick wie ein Baguette und die ganze schöne Geschichte, die eigentlich hier zu lesen gewesen wäre, ist komplett im Eimer. Ihr denkt Euch den klugen Teil einfach selber, okay, meine Luder?

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