Muttertag – Zeit für Gefühle. Und für Ehrlichkeit
2020 war das erste Jahr, in dem die Feeds meiner Social-Media-Accounts am und um den Muttertag herum mit Mutter-Tochter-Fotos überflutet wurden. Vielleicht weil es der Frühling war, in dem Corona ausbrach. Weil viele Menschen um das Leben ihrer alten Eltern zitterten. Weil sie deshalb ein besonders großes Bedürfnis hatten, ihrer Liebe zur Mutter Ausdruck zu verleihen.
Vielleicht aber gibt es diesen Trend schon viel länger, und ich hatte ihn nur noch nie bemerkt. Fest steht: Nachdem mir diese Muttertags-Foto-Flut vorletztes Jahr erstmals aufgefallen ist, überrollte sie mich auch 2021. Und ich rechne damit, dass sie auch dieses Mal rollen wird.
Meiner Social-Media-Blase entsprechend sehe ich auf diesen Muttertags-Fotos eine Frau mittleren Alters zusammen mit einer sehr alten Frau. Oder auch nur eine lächelnde Greisin. Dazu ein Text dieser Art: „Ich bin so dankbar, sie noch haben zu dürfen.” – „Mein großes Vorbild.” Oder: „87 und noch immer topfit: Die beste Mama der Welt.” Manche Fotos zeigen Verstorbene: „Heute bin ich besonders traurig, dass du nicht mehr bei mir bist.”
Ich sehe und lese – und fühle etwas zwischen Befremden und Neid. Es muss schön sein, eine Mutter zu haben, auf die man stolz, mit der man innig verbunden, der man dankbar ist. Nach deren Warmherzigkeit, Witz, Stärke, Trost, Rat oder Apfelpfannkuchen man sich sehnen kann. Ich empfinde nichts davon, wenn ich an meine Mutter denke.
Die Geschichte meiner Mutter lautet: Es hat dir an nichts gefehlt
Meine Mutter ist mir fremd. Fremder als viele fast fremde Frauen, gerade weil sie meine Mutter ist und wir einander trotzdem nicht nah sind. Wir haben eine gemeinsame Geschichte, ja. Aber die, die meine Mutter erzählt, ist eine völlig andere als meine.
Die Geschichte meiner Mutter lautet: Es hat dir an nichts gefehlt.
Meine Geschichte lautet: Stimmt, es hat mir weder an Kleidung und Schulbroten noch an Klavierstunden, Erziehung und Bildung gefehlt. Auch nicht an Urlauben, sorgsam ausgesuchten Geburtstagsgeschenken und hingebungsvoll geschmückten Weihnachtsbäumen. Woran es mir jedoch sehr gefehlt hat: an Geborgenheit, Zärtlichkeit und Einfühlungsvermögen, an Nähe, Wärme, Lachen, Herzlichkeit. An Liebe – an spürbarer Liebe, nicht an behaupteter.
Es hat mir am Allerwichtigsten gefehlt, so sehe ich es.
Es war immer sehr hübsch, sehr sauber, sehr ordentlich bei uns zu Hause; was man mit den Augen sieht, war meiner Mutter schon immer extrem wichtig. Ihrem Bedürfnis nach Ordnung, Sauberkeit und Schönheit hatte sich alles unterzuordnen, auch ihr Kind.
Zum Beispiel: Wenn es geschneit hatte, stürmten alle Nachbarskinder jubelnd in die Gärten, bauten Schneemänner und warfen Schneebälle. Nur ich durfte nicht in unseren verschneiten Garten. Meine Mutter wollte vom Wohnzimmer aus auf eine makellose Schneedecke schauen, auf ihr kleines, privates Wintermärchen. Deshalb musste ich dort im Schnee spielen, wo er sowieso nicht lange unberührt blieb – auf dem öffentlichen Rasenstück vor dem Haus.
Wut, Schmerz, Schmutz – das passt nicht in die mütterliche Idylle
Natürlich gibt es für ein Kind viel Schlimmeres, als keinen Schneemann im Garten bauen zu dürfen. Aber dieses Beispiel ist ein Gleichnis dafür, in was für einer Atmosphäre ich groß geworden bin: Meine Mutter hat der Idylle (ihrer Version einer Idylle) stets den Vorzug gegeben vor Lebendigkeit – sogar wenn sie sich nur in Form von kindlicher Lebenslust zeigte, erst recht, wenn es sich um eine weniger „reine”, erwachsene, kraftvollere Lebendigkeit handelte.
Lebendig zu sein heißt, jedenfalls für mich, sich darauf einzulassen, dass das Leben unberechenbar und ambivalent ist. Dass zur Liebe die Wut gehört, zur Lust der Schmerz und zum Ausprobieren die Gefahr. Dass das Schöne Schmutz machen und das Schmutzige schön sein kann. Dass sich im tiefsten Dunkel Erleuchtung verbirgt. Dass Gut und Böse die Gestalt wechseln und auch sonst nichts ganz sicher ist außer dem Tod, weshalb man das Leben, solange es dauert, mit möglichst offenen Armen empfangen sollte.
Meine Mutter aber fürchtet alles Unberechenbare, Zweideutige, Ungewisse wie der Teufel das Weihwasser. Sie will Klarheit, Sicherheit, Kontrolle.
Alle Gegenstände haben bei ihr ihren festen, zentimetergenauen Platz. Schon als Vorschülerin lernte ich, dass Schuhe immer im Schuhschrank zu stehen und dass ich benutzte Trinkgläser in einer ganz bestimmten Ecke der Küche abzustellen habe, damit sie meiner Mutter nicht unangenehm ins Auge fallen. Für alles gab und gibt es Regeln und Rituale. Der Alltag meiner Mutter verläuft nach einem selbstauferlegten Stundenplan: Schon vor der Geburt ihres Enkels ging sie alle drei Wochen immer freitags um neun Uhr dreißig zur Fußpflege. Diesen Termin würde sie niemals verschieben, nur weil der Enkel, inzwischen Student, in der Stadt ist und sie am Freitagvormitttag besuchen will. Unpünktlichkeit erträgt sie nicht einmal minutenweise.
Auch ihr Weltbild ist fest, nämlich schwarz-weiß. Ihre moralischen Urteile fallen entsprechend rigoros aus. Ihr ist alles suspekt, das nach Maßlosigkeit und Kontrollverlust riecht: Alkohol, Partys, Torten, Sex, Schlampigkeit, Grauzonen. Ihre höchste Bewunderung erregen Menschen, insbesondere Frauen, die schlank und adrett, die diszipliniert sind.
Ganz sicher ist meine Mutter auch deshalb so, wie sie ist, weil sie ein traumatisiertes Kriegskind ist, geboren 1939.
Ich glaube, dass tief in ihrem Inneren ein kleines Mädchen existiert, das im Luftschutzbunker die Augen zukneift, die Hände auf die Ohren presst und sich in eine Welt träumt, in der wie früher, vor der Katastrophe, alles gut, heil, hell und schön ist. Dieses kleine Mädchen hat, als es den Jahren nach selbst erwachsen war, eine eigene Familie – sein eigenes, winziges Reich – gegründet in der Hoffnung, wenigstens dort in Sicherheit zu sein.
Sein Reich schottet das kleine Mädchen durch Ignoranz und Verdrängung von allem ab, was es als bedrohlich empfindet: In der Selfmade-Idylle meiner Mutter, die sich oft aufführt wie eine Prinzessin, darf es nicht nur keine Krümel unterm Küchentisch geben, sondern auch keinen ernsthaften Kummer, keine tiefergehenden Konflikte, keine echten Krisen. Die Prinzessin will vor allem, was sie als unangenehm oder gar überfordernd empfindet, beschützt werden – von allen, die aus ihrer Sicht zu ihrem Reich zählen, auch von ihrem Kind.
Noch immer das Kind aus dem Bombenkeller
Zeit meines Lebens hatte ich das Gefühl, für die Stimmung meiner Mutter verantwortlich zu sein. Ich nehme an, weil sie mir dieses Gefühl gegeben hat. War sie traurig und angespannt, hatte ich versagt. Dann war es meine Aufgabe, sie wieder glücklich zu machen. Indem ich sie nicht noch einmal enttäuschte. Indem ich wieder brav war. Indem ich noch mehr Einsen schrieb. Indem ich sie nicht mit meinen jugendlichen Verwirrungen und Problemen belastete, sondern lernte, immer vergnügt, sehr beliebt und überaus zielstrebig zu tun, dabei war ich oft todtraurig, einsam und orientierungslos. Ein ganz normaler Teenager halt.
Bis heute gilt: Wenn es mir nicht gut geht, geht es meiner Mutter noch schlechter. Spätestens dann kommt das hilflose Mädchen zum Vorschein, das bettelt, es solle bitte alles wieder gut sein: „Aber es geht dir doch sicher schon wieder besser, oder? Ich mache mir solche Sorgen, ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen.”
Ja, Mama, schon gut, alles in Ordnung, schlaf, Kindlein, schlaf.
Vor ein paar Jahren gab es einen Augenblick, da gab es eine schlechte, aber keineswegs katastrophale Nachricht im Leben meiner Mutter, die sie weder ignorieren noch schönreden konnte. Meine Mutter, die bis dahin, auf wundersame Weise, ihr ganzes Erwachsenenleben lang von größerem Unglück verschont geblieben war, hätte eine Entscheidung fällen und handeln müssen. Dazu war sie nicht imstande. Sie saß mit geschlossenen Augen zitternd auf einem Stuhl und wimmerte: „Nein, ich kann das nicht. Ich kann das nicht, nein.”
Es war der Augenblick, in dem mir aufging: Ich habe nie eine richtige Mutter gehabt, denn meine Mutter ist nur äußerlich erwachsen geworden. Innerlich ist sie ein kleines Mädchen geblieben.
Ich sah meine völlig hilflose, sich jeder Verantwortung verweigernde, die Augen vor der Wirklichkeit verschließende Mutter an und dachte: Fuck, ich bin von einem kleinen Mädchen geboren und großgezogen worden, das erklärt alles! Ich wurde überwältigt von einem tiefen Mitgefühl für mich selbst, für das mutterlose Kind in mir: Ich Arme, dachte ich, ich armes, armes Ding!
Mit meiner Mutter Mitgefühl zu haben schaffe ich nicht. Auch weil sie jede echte Nähe verweigert.
Ein paar Mal habe ich mich als Erwachsene getraut, sie auf den Mangel anzusprechen, den ich als ihr Kind empfunden habe und immer noch empfinde – ruhig im Tonfall, aber ehrlich in der Sache: „Mama, es ist schwer für mich, wenn du …” – „Ich habe gelitten darunter, dass …” – „Ich fühlte mich oft nicht genug geliebt, weil …”
Ich habe meiner Mutter Dinge gesagt, die mich maßlos bestürzen und beschäftigen würden, wenn mein Kind sie zu mir sagen würde. Ich würde Tage und Nächte lang darüber nachdenken. Ich würde noch einmal darüber reden, mich erklären, verteidigen und entschuldigen, mich mit meinem über alles geliebten Kind versöhnen wollen.
Meine Mutter antwortete immer nur: „Ach, das ist so lange her.” Oder: „Das war damals halt so.” Oder einfach: „Daran kann ich mich nicht erinnern.” Damit war die Sache für sie erledigt, sie erzählte von ihrem neuen Sommermantel und kam nie wieder auf das Thema zurück.
Sie redet und redet. Über Servietten, die Nachbarin, den Sommermantel
Ich habe es aufgegeben, meiner Mutter im Gespräch nah kommen zu wollen. Und so reden wir nur noch über ihre neuesten Einkäufe und andere scheinbar unverfängliche Dinge: Meine Mutter kann schier endlos über Sachen reden. Sie redet über Sachen, die sie begehrenswert findet und irgendwo gesehen hat, die sie sich wünscht, die sie schon besitzt, wo es sie gibt, wo sie sie vor zwei oder zwanzig Jahren gekauft hat, wie viel sie gekostet haben, was sie heute kosten würden oder wo man sie für wie viel Euro bekommt.
Gerne redet sie auch über Sachen, die sie nicht mag. Wie geschmacklos sich Frau X anzieht, in welchem Billig-Laden sie niemals einkaufen würde, dass ihr gelbe Blumen nicht in die Vase kommen, so was. Oder sie redet darüber, was sie getan oder zu tun hat. Wo sie überall nach passenden Servietten gesucht und wie lange sie beim Arzt gewartet hat, welche Pralinen sie wo für die Nachbarin besorgen und dass sie die Balkonpflanzen in drei Tagen wieder düngen muss, aber nur mit diesem einen Mittel, alle anderen taugen nichts.
Ich nehme an, dass das endlose Reden über Sachen und Tatsachen meine Mutter davor bewahrt, über Gefühle und andere lebensgefährliche Themen reden zu müssen. Und vor der schrecklichen, erschreckenden Leere, die entstehen würde, wenn sie mal mit Reden aufhören und bemerken würde, dass wir, Mutter und Tochter, einander vor lauter – im Laufe der Jahre immer größer gewordenen – Sprachlosigkeit am Ende ihres Lebens eigentlich nichts mehr zu sagen haben.
Ich sitze da und langweile mich entsetzlich. Je mehr ich mich langweile, desto wütender und deprimierter werde ich, bis ich es nicht mehr aushalte und sage: „Du, ich muss jetzt los.”
Kaum bin ich aus der Tür, atme ich auf, erleichtert, dass ich meine Mutter jetzt erst mal wieder eine Weile nicht mehr sehen und sprechen muss. Bis zum nächsten Besuch, den ich wie immer nur aus Pflichtgefühl und schlechtem Gewissen absolvieren werde.
Auf einmal war er da, dieser erbarmungslose Blick
Und neulich, als sie sich mal wieder nur halbherzig danach erkundigt hatte, wie es ihrem Enkel ginge, aber die Antwort nicht hören wollte, nämlich dass er gerade schlecht drauf war wegen des damals immer noch anhaltenden Online-Studiums („Na, anders geht es halt nicht, und Corona ist für uns alle eine Belastung!“). Als sie lieber schnell das Thema wechselte und eine halbe Stunde am Stück berichtete, in welchen Ecken die neue Putzfrau nicht gründlich genug geputzt habe und was für eine schwierige, langwierige Angelegenheit es gewesen sei, eine perfekt sitzende Bluse in dem einzigen Rotton zu finden, der ihr stehe. Nicht zu hell und nicht zu dunkel.
Da schaute ich meine Mutter mit einem, wie ich selbst merkte, erbarmungslosen Blick an. Ich sah ihre Ich-Bezogenheit, ihre Oberflächlichkeit, ihre Unreife, ihre Eitelkeit, und in meinem Kopf tauchte der Satz auf: Ich mag dich nicht.
Ich hasse meine Mutter nicht.
Meine Mutter hat mich nicht geschlagen. Sie hat mich nicht gedemütigt, missbraucht oder vernachlässigt, jedenfalls nicht äußerlich. Sie hat bestimmt, ich weiß, sogar ihr Bestes gegeben. Deshalb kann ich sie nicht hassen. Ich bin ihr nicht mal richtig böse, es ist nur so: Ich mag sie nicht. Sie eine mir unsympathische, inzwischen sehr alte Frau.
Ich liebe meine Mutter.
Behauptet meine Therapeutin. Zumindest ein Teil von mir liebe sie noch, zumindest ein bisschen. Wenn ich sie gar nicht mehr lieben würde, sagt die Therapeutin, wäre meine Mutter mir gleichgültig. Dann könnte sie mich nicht mehr immer wieder aufs Neue enttäuschen und so traurig oder wütend machen, wie ich es nach meinen Besuchen bei ihr oft bin.
Kann sein, das klingt plausibel, na gut.
Dann liebt irgendwas in mir sie meinetwegen noch ein bisschen, auf eine krude, nicht nach Liebe aussehende, therapiebedürftige Weise. Aber auch diese kindliche Restliebe ändert nichts daran, was die erwachsene, 49-jährige Frau in mir denkt und fühlt, wenn sie auf dem Sofa meiner Mutter sitzt (nicht billig, aber sehr gute Qualität!) und ihr sinn- und empathieloses Geplapper über sich ergehen lässt:
Ich mag meine Mutter nicht.
Auf Bitten der Autorin erscheint dieser Text anonym.
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