Georgine Kellermann: „Die Möwe Jonathan“ von Richard Bach
Die Möwe Jonathan
Wenn ich gefragt werde, was mein liebstes Buch ist, dann kann ich mich zwischen zwei Büchern nie entscheiden. Sie sind beide mein „liebstes Buch“. „Le Petit Prince“ und „Jonathan Livingston Seagull“. Im Deutschen ist Letzteres mit „Die Möwe Jonathan“ überschrieben. Weil Jonathan Livingston Seagull vor genau 50 Jahren von Richard Bach geschrieben wurde, schreibe ich heute über „Die Möwe Jonathan“.
Jonathan sticht heraus aus dem Schwarm der anderen Möwen. Die stürzen sich von morgens bis abends auf die Netze der Fischkutter. Fressen ist ihr einziger Lebenszweck. Jonathan fliegt. Immer schneller, höher, weiter. Er begreift nicht, warum die anderen sein Glück nicht sehen. Und die anderen begreifen nicht, warum er so glücklich ist in dem, was er tut.
Das geht so weit, dass Jonathan aus seinem Schwarm ausgestoßen wird. Fortan ist er auf sich alleine gestellt. Ohne den Schutz der anderen. Und bleibt trotz allem unendlich glücklich, weil er weiter tut, was er liebt: Fliegen.
Neid auf die, die fliegen
Fliegen – das war mein Traum, seitdem ich denken kann. Pilot(in) der Beruf, für den ich alles gegeben hätte. Klar: Ich hatte in meiner Jugend auch Phasen, in denen andere Berufungen in Frage kamen. Als wir in unserer Pfarrei einen coolen Kaplan bekamen, der einen Sportwagen fuhr und mit uns Messen feierte, die vom Pastor als schwarze oder Hexenmessen beschimpft wurden, da wäre ich gerne Kaplan geworden. Das war von kurzer Dauer. Fliegen war und ist ein Leben lang da.
Mit dem Fahrrad fuhr ich damals immer, wenn es ging, zur Startbahn am Flughafen Düsseldorf. Stundenlang konnte ich dort stehen und die Maschinen beobachten, die zum Start rollten. Ich war immer neidisch auf die beiden Menschen, die man ganz klar im Cockpit erkennen konnte. Neidisch darauf, dass sie gleich erleben durften, was ich unbedingt tun wollte. Abheben und frei sein. Ich wusste damals schon, dass ich nie Pilot(in) werden konnte. Eine Hornhautkrümmung am Auge machte mir da einen Strich durch die Rechnung.
Mit 18 bin ich dann zum ersten Mal geflogen. Gemeinsam mit unserem coolen Kaplan reiste die Jugend meiner Pfarrei nach Israel. Von Düsseldorf nach Frankfurt und dann weiter nach Tel Aviv. Ich habe geweint vor Freude, als ich in Düsseldorf ins Flugzeug stieg. Ich erinnere mich immer noch daran, wie ich am Eingang die Aluminiumhaut des Flugzeugs streichelte, mit dem ich zum ersten Mal in meinem Leben meinem Traum wenigstens ein Stück näher kam. Auch die Möwe Jonathan hat diesen Traum in mir lebendig gehalten.
Ein wenig „Jonathan“ für alle
Ich wünsche jeder und jedem, dass ein wenig Jonathan Livingston Seagull auch in Ihnen ist. Es macht uns einzigartig, frei, zufrieden. Mich macht er sogar glücklich. Denn es geht ja nicht nur ums Fliegen. Es geht ja auch darum „ich selbst“ zu sein. Mich zu befreien von Zwängen, die unser gesellschaftliches Umfeld geschaffen hat.
Im letzten März habe ich der Klasse 5d an der Heinrich-Heine-Gesamtschule in Duisburg-Rheinhausen aus der Möwe Jonathan vorgelesen. Ich freue mich heute noch jedes Mal, wenn ich an diesen Tag denke. Bei der einen oder dem anderen hat die Geschichte die Vorstellung bestärkt, dass wir sein können wer wir sein möchten. Solange wir andere nicht einschränken.
Georgine Kellermann, 63, lebte bis 2019 als Georg Kellermann. Die Journalistin ist Leiterin des WDR Studios Essen.
Bildmontage: Brigitta Jahn
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#archiv | Beitrag vom 26.11.2020