Julia Karnick hat auf ihrer Facebook-Seite Frauen aufgefordert, das vergangene Jahr mit einem Wort auf den Punkt zu bringen. Sieben der Wörter hat sie ausgewählt, um die Geschichten dahinter zu erzählen. Hier sind sie, jeden Tag eine.
Angelika, 58, Kunsthändlerin
Nach 25 Jahren Zusammenarbeit bin ich – sehr zum Ärger meines Vaters – aus dem Kunsthandel meiner Eltern ausgestiegen. Ich wurde dort zunehmend unglücklich und wollte mein eigenes Ding machen. Ich eröffnete eine Galerie, in der ich mit großer Freude junge Kunst verkaufte. Leider war das Projekt von Anfang an unterfinanziert. Nach vier Jahren musste ich Regelinsolvenz und Hartz IV beantragen. Allerdings gab ich den Mut nicht auf – machte Weiterbildungen und suchte mir einen Job. Bei meiner ersten Arbeitsstelle lernte ich »Bossing« der übelsten Sorte kennen. Mein bisher erfolgreiches und selbstbestimmtes Leben schien mir zwischen den Händen zu zerrinnen. Ich fühlte mich wie eine komplette Versagerin.
Seitdem durfte ich von meinem Gehalt maximal 1.150 Euro im Monat behalten. Den Rest bekamen die Gläubiger – sechs Jahre lang. 1.150 Euro für eine Großstadtmiete, Lebenshaltungskosten, Versicherungen etc. sind nicht viel. Von einem Auto, hochwertigen Lebensmitteln, schicker Kleidung, Kultur oder gar Reisen konnte ich nur träumen.
Wegen der Selbstständigkeit meiner Eltern war ich es von Jugend an gewöhnt, dass es fette und auch magere Zeiten geben kann. Trotz der ein oder anderen Krise hatte ich es auch immer hinbekommen, mich zu motivieren und finanziell zu berappeln. Lebenskünstlerin halt! Aber in der Insolvenz musste ich lernen, in relativer Armut zu leben. Das war und ist eine enorme psychische Belastung.
Viele Freunde können nicht damit umgehen, dass ich kein Geld mehr habe
Kein Geld mehr zu haben heißt: Man kann ganz viel, was für andere selbstverständlich ist, nicht mehr erleben. Trauriger Nebeneffekt: Viele Freunde konnten damit nicht umgehen. Sie haben sich von mir abgewendet. Eine bittere Lektion zu allem materiellen Verlust. Ich habe aber auch schöne Erfahrungen gemacht. Am großzügigsten scheinen die Menschen zu sein, die selbst wenig haben. Ein chronisch klammer Künstler-Freund hat mir mal spontan neue Winterstiefel geschenkt, als er sah, wie kaputt meine alten waren. Wundervoll! Auch mein Partner hat immer zu mir gehalten. Wir machen in unserer Freizeit Sachen, für die man kein oder nur wenig Geld braucht: günstige oder kostenlose Kulturangebote und Ausflüge in die Natur. Und nicht erst seit Corona verbringen wir viel Zeit zu Hause. Restaurant-, Kino- und Konzertbesuche sind derzeit einfach sehr begrenzt drin. Macht aber nichts: Wir zelebrieren das gemeinsame Kochen, entspannen bei einem Film oder genießen gute Musik.
Ende dieses Jahres bin ich endlich raus aus der Insolvenz. Anfang 2020 dachte ich noch optimistisch: Das letzte Jahr, in dem ich so knapsen muss. Im April jedoch teilte mir mein Chef (Galerist) mit, dass er mich nur noch halbtags beschäftigen könne. Sofort kamen wieder Ängste und psychischer Druck hoch.
Eine Arbeit zu haben, ist das eine. Etwas Sinnvolles zu tun, das andere
Ich brauche unbedingt wieder einen Vollzeitjob, sonst lande ich in der Altersarmut. Außerdem will ich etwas Sinnvolles tun, statt den halben Tag zu Hause zu hocken. Aber wegen Corona wird es noch schwieriger, einen neuen Vollzeitjob zu finden. Ich befürchte: Die Lage wird nicht besser. Unser Land wird von einer Insolvenzwelle überrollt und die Arbeitslosenzahlen steigen drastisch. Welche Chancen habe ich da als 58-Jährige? Kunst wäre traumhaft, muss aber nicht sein. Ich würde alles machen, was im weitesten Sinne mit Büro zu tun hat.
Meine Lage bleibt demnach existenzbedrohend. Manchmal packt mich pure Hoffnungslosigkeit. Am Ende schaffe ich es jedoch immer, mich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen und wieder positiv zu denken. Was mir dabei hilft, ist meine Gabe, mich an den kleinen Dingen zu erfreuen. Zum Beispiel über meinen Weihnachtskaktus: Der blüht dieses Jahr wie Bolle.