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Palais F*luxx

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Tochter mit Sternchen I Ein Text von Verena Carl

Vor beinahe 20 Jahren wurde Verena Carl, 54, Mutter einer Tochter – dachte sie jedenfalls. Dann kam alles anders. Von einer komplizierten Suche nach geschlechtlicher Identität, komplizierten Elterngefühlen und einer späten Erkenntnis

Mutter wird man nicht von jetzt auf nachher. Nicht in der Minute, in der die Hebamme im Kreißsaal die Uhrzeit abliest und in die Patientinnenakte einträgt. Was das für ein kleiner Mensch ist, mit dem man für einige Monate den eigenen Körper geteilt hat, und was Verantwortung bedeutet, das versteht man oft erst sehr viel später.

Umgekehrt gibt es schon vor einer Geburt diese Momente, die einen Stück für Stück zur Mutter werden lassen. Bei mir war es die Ultraschalluntersuchung in der 20. Schwangerschaftswoche, bei der wir uns das Geschlecht unseres ersten Kindes verraten ließen.
Eindeutig, sagte der Arzt. Das ist ein Mädchen. Sofort war da eine neue Vertrautheit mit dem Ungeborenen. Aus dem Wesen, das im Ultraschall aussah wie ein Zeichentrick-Tierchen im Nieselregen, war eine reale Person geworden. Nicht mehr „das Baby“, sondern „meine Tochter“. Von dem Moment an trug sie den Namen, den wir schon für sie ausgewählt hatten. Als wäre Geschlecht eine magische Zutat, die eine Idee erst in einen lebendigen Menschen verwandelte.
Wie absurd dieser Gedanke eigentlich ist, kam mir nicht in den Sinn. Heute würde ich sagen: Dieses warme Gefühl hatte in erster Linie mit mir selbst zu tun. Meinen Projektionen, Wünschen, Vorstellungen, wie das Leben mit einer Tochter sein würde.

„Männer, Frauen, es gibt ja nichts anderes“

Ich wusste es allerdings auch nicht besser, das muss man zu meiner Ehrenrettung sagen. Ich bin aufgewachsen mit Scherzen wie „Männer und Frauen passen nicht zueinander – aber es gibt ja nichts anderes!“ Nie wäre ich auf die Idee gekommen, diese Pointe zu hinterfragen. Sicher, mir war auch schon vor 20 Jahren vage bewusst, dass es Personen gab, die sich mit ihren äußeren Geschlechtsmerkmalen nicht identifizieren. Aber welche Leidensgeschichten sich dahinter verbargen, wie die Gesetzeslage war, die medizinische Situation, darüber machte ich mir damals keine Gedanken. Es schien mir so fern. Und dann, Schritt für Schritt, kam es mir ganz nah.
Mein Kind war immer anders, auf seine Weise, aber die ersten Anzeichen waren noch sehr subtil. Sie bereiteten mir keine Sorgen, ich feierte sie eher. Nicht der Typ Mädchen, der im Winter mit Prinzessinnenkleid in die Kita gehen will? Bestens, wer möchte schon ein Mini-Tradwife zur Tochter haben. Die alten Sweatshirts des großen Cousins auftragen? Super – ist ja auch viel nachhaltiger als ständig shoppen. Im Rollenspiel mit anderen Kindern mal weibliche, mal männliche Rollen übernehmen? Ein Zeichen für viel Fantasie.
Und außerdem: Wir lebten ihr den kreativen Umgang mit Geschlechterrollen auch vor. Mein Mann und ich verdienten ähnlich viel Geld, kümmerten uns ähnlich viel um unsere Kinder (ein jüngerer Bruder kam knapp drei Jahre später dazu). Ich konnte besser einparken, mein Mann effizienter mit der Bohrmaschine umgehen, kochen klappte gut zu zweit. Klar, dass Disney-Prinzessinnen nicht das bevorzugte Role Model unserer Tochter waren. Genauso wenig, wie sie auf die Idee kam, Frausein sei eine Strafe.
So wurde sie größer, ihr Körper zeigte erste Anzeichen der Pubertät, was sie weder zu begeistern schien noch zu stören. Sie nahm es eher so hin. Irgendwann stand sie auch mal vor dem Spiegel und sagte: Mama, ich finde mich schön. Das hätte ich mit elf, zwölf niemals über mich gesagt, und es machte mich glücklich. Eine Zeitlang schien tatsächlich alles wie auf Schienen zu laufen, wiedererkennbar, ein Remake meiner eigenen Teenagerzeit: kichernde Freundinnen beim gemeinsamen Backen in der Küche, das erste Make-up, schüchterne Liebesnachrichten auf dem Handy. Auch wenn sie ihre Winterjacken immer noch am liebsten in der Jungsabteilung kaufte.

Fremdes Geschlecht, fremde Sprache, fremde Gefühle

Doch dann, auf einmal, stoppte das. Es war, als hätte sie das Mädchensein anprobiert wie ein Kleidungsstück, sich zweifelnd vor dem Spiegel in der Umkleidekabine gedreht und festgestellt: Nein. Nettes Teil, aber nichts für mich. Passt nicht, zwickt an komischen Stellen, bin nicht ich. Kurz darauf trug sie die Haare raspelkurz und hatte einen neuen Freundeskreis, in dem Personalpronomen und das Geschlecht im Personalausweis bei vielen nicht dieselben waren. Jugendliche, die alle auf dieselbe Weise mit sich selbst fremdelten, nach sich selbst suchten. Wenn sie bei uns ein- und ausgingen, hätte ich oft nicht sagen können, was sie waren. Männlein, Weiblein, anderes. Manchmal fragte ich, manchmal nicht. Und lernte täglich neue Begriffe. Genderqueer, Demigirl, agender.
Oft fühlte ich mich aber auch hilflos angesichts dieser neuen Vokabeln, dieser für mich fremden Sprache. Und es war nicht nur das, es war auch das Gefühl, dass mein Kind mir entglitt: Es ging einen Weg in unwegsames Gelände, in ein Land, für das ich keine Karte habe und keinen Kompass. Durfte ich es einfach ziehen lassen, es für seinen Weg stärken, wo auch immer er hinführte? Oder war es unsere Aufgabe, es zurückzuholen auf bekanntes Terrain? Es gar vor sich selbst zu schützen? Mussten, sollten wir überhaupt kontrollieren, was da vor sich ging? War das gefährlich, oder genau richtig?
Gleichzeitig ergaben plötzlich all die kleinen Dinge Sinn, die ich zuvor beobachtet hatte. Und zwar lange, ehe mein Kind überhaupt wusste, dass es Worte dafür gibt. Denn das Thema „Geschlechtliche Vielfalt“ hatte ich in den beiläufigen Aufklärungsgesprächen nur am Rande gestreift. Eines weiß ich deshalb ziemlich sicher: Niemand hat meiner Tochter ihre Identität eingeredet, weder wir Eltern noch Social Media. Höchstens hat sie dort Menschen gefunden, mit denen sie Resonanz erlebte. Und merkte: Ich bin nicht allein. Es gibt andere da draußen, die ähnlich empfinden. Und meine Eltern lassen mich ausprobieren, sie versuchen nicht, mir etwas aufzuzwingen.

Was macht mich eigentlich zur Frau?

Es war keine ganz einfache Zeit, und ich möchte nicht zu sehr ins Detail gehen. Nur so viel: Pubertät ist immer eine Häutung, aber bei ihr ging sie tiefer. Ich wusste nicht mehr, wen ich vor mir hatte. Ich glaube, sie wusste es selbst nicht. Aber nicht nur sie häutete sich – auch ich. Zum ersten Mal stellte ich mir die Frage, wie stark die Identität eines Menschen mit seinem Geschlecht zusammenhing. Auch meine eigene. Was ist es, das mich zur Frau macht, mal abgesehen von körperlichen Merkmalen, Hormonen, Chromosomen? Wie viel Frausein ist gelernt, wie viel angeboren? Fragen, bei denen die Sprache an ihre Grenze kommt, jedenfalls meine.
Umso besser konnte ich mir jetzt vorstellen, wie es wäre, wenn Spiegelbild und inneres Empfinden so gar nicht zusammenpassen. Und wie Menschen fühlen, die ihrer Umgebung ständig erklären oder beweisen sollen: Ich bin ich, auch wenn ich nicht so aussehe, könnt ihr das denn nicht erkennen?
Mein Mann machte sich weit weniger Gedanken. Es fiel ihm auch nie schwer, unser Kind genau so anzunehmen, wie es war, mit seiner komplizierten Geschlechtlichkeit. Ich denke, er hatte weniger Erwartungen und Vorstellungen, blickte nicht durch diese Hollywood-Brille aufs Familienleben, die ich offenbar unbemerkt aufhatte, trotz aller gefühlten Emanzipation. Die musste ich erst absetzen, um wieder klar zu sehen. Das Drehbuch wegwerfen, mich auf Impro-Theater einstellen.
Ich glaube übrigens, er fühlte (und fühlt) sich auch wohl genug in seiner eigenen Männlichkeit, um keine „Trophy“-Frauen zur Bestätigung zu brauchen. Auch keine normschöne Teenagertochter, die ihn anhimmelt und deren Verehrer er mit der Schrotflinte von der Veranda verjagt. Aber, okay: Wir haben auch keine Veranda.

Coming-out beim Gemüseschnippeln

Schließlich, unsere Tochter war dreizehn, hatte sie ein Wort für sich gefunden und teilte es uns en passant mit, als wir in der Küche standen und Gemüse schnippelten: nicht binär, noch besser: genderfluid, also von fließendem Geschlechtsempfinden. An manchen Tagen weiblich, an manchen männlich, an manchen dazwischen oder jenseits der binären Geschlechtszuschreibung. Eine Person, die mit allem jonglierte, mit Namen, Pronomen, ihrer äußeren Erscheinung. Die den weiblichen Vornamen behielt, den wir ihr gegeben hatten, und einen genderneutralen Spitznamen dazu gewann, mit dem viele ihrer Freund*innen sie ansprachen. Meine Reaktion war verhalten, ich dachte: Das kann niemals so bleiben. Eindeutig, so hatte der Arzt damals beim Ultraschall gesagt. Eindeutig ein Mädchen. Dieser Zustand war das Gegenteil. Würde das Pendel zur anderen Seite umschlagen? War unser älteres Kind am Ende ein Sohn, keine Tochter?

Heute, fünf Jahre später, weiß ich: Es geht auch ohne Eindeutigkeit. Man kann sich zwischen allen Stühlen heimatlich einrichten, allen Pronomen, allen Geschlechtern. Meine Tochter ist der Genderstern in Person, eine Tochter mit Sternchen. Leider gibt es dafür kein besseres Wort. Falls jemand eine gute Idee hat, wie man ein erwachsenes, nicht-binäres Kind bezeichnen könnte: Ich bin für alle Vorschläge offen. Immerhin gibt es ein Wort, das uns beide vereint: FLINTA. Steht für Frauen/Lesben/Inter/ Nichtbinär/Trans/Agender, ich mag es aber auch, weil es klingt wie ein Name aus einem schwedischen Kinderbuch. Einerseits macht das Fluide das Leben leichter, leichter als für trans Menschen, die äußerlich weiblich und innerlich männlich sind, oder umgekehrt. Wer sich zwischen den Polen verortet, für den sind Hormonbehandlungen oder angleichende Eingriffe nicht das vordringlichste Thema. Das nimmt viel Druck raus, den andere Familien mit trans Jugendlichen spüren. Man muss nichts tun, nichts entscheiden, kann nichts verpassen oder bereuen. Andererseits macht es das oft noch erklärungsbedürftiger. Genderfluid, nicht-binär, das sind für die meisten Menschen keine geläufigen Begriffe. Wenn ich sie für meine Tochter verwende, werde ich manchmal angeschaut, als könne das nicht mehr sein als eine seltsame Laune. Ein Luxusproblem. Manchmal lasse ich die Erklärung auch ganz bleiben, aber das fühlt sich nicht gut an, als würde ich etwas Wesentliches verleugnen.

Der Apfel fällt niemals nach oben

Mein vorherrschendes Gefühl heute: Dankbarkeit. Dafür, dass sie sich gefunden hat, ohne Schaden zu nehmen, so unbeirrbar ihren Weg gegangen ist, mir nicht verübelt hat, dass ich nicht immer perfekt damit umgehen konnte. Und dafür, dass bei mir selbst Körper und Empfinden zusammenpassen wie Schlüssel und Schloss. Ganz einfach Frausein, das ist eben nicht selbstverständlich.
Seither habe ich mich auch als Journalistin und Autorin viel mit dem Thema beschäftigt, Menschen verschiedener Geschlechter und verschiedener Altersstufen getroffen, die jüngste war neun, die älteste Ende 60. Ich habe mir ihre Geschichten erzählen lassen, und weiß jetzt noch besser, welches Leid es mit sich bringt, wenn jemand gegen das eigene, innere Geschlechtsempfinden lebt. Und welche Erleichterung, den Schalter umzulegen. Aber auch ein kleineres Störgefühl kann eben zur Folter werden, wenn es chronisch ist. So wie bei meiner Tochter, die keine Frau ist, aber auch nicht keine Frau.
Alles Humbug, Einbildung, Selbstsuggestion, wie es selbsternannte „Genderkritiker“ sagen? Ich denke nicht, auch wenn es vielen Menschen schwerfallen mag, sich etwas anderes vorzustellen als Zweigeschlechtlichkeit. Auch das verstehe ich. Neulich bin ich auf eine Analogie gestoßen, die für mich passend erscheint: In der traditionellen Physik gelten die gängigen Gesetze der Schwerkraft und Anziehung, das können wir beobachten, wenn ein Apfel vom Baum fällt, und er wird seine Fallrichtung niemals umkehren. Aber seit der Quantenphysik wissen wir, dass die Newtonschen Gesetze in den Randbereichen zum Teil nicht gelten, also im winzigen, molekularen Bereich ebenso wie in riesigen, interstellaren Dimensionen.

Übertragen auf das Geschlechterthema heißt das: Es wird vermutlich immer so sein, dass der überwiegende Teil der Menschen sich mit dem eigenen Körper, mit seinen äußeren Geschlechtsmerkmalen identifiziert. Insofern halte ich die binäre Geschlechterordnung nicht für gänzlich falsch, überholt, will sie nicht abschaffen. Sie ist Alltag, für die meisten passt sie, für mich, meinen Mann und unseren jüngeren Sohn ja auch. Für andere eben nicht. Ob das nun 0,6 Prozent sind (wie es eine Erhebung des US-amerikanischen Williams-Institute nahelegt) oder bis zu vier Prozent (wie es der aktuelle Durex Global Survey sagt), ist am Ende gar nicht so wichtig. Aber wenn wir uns darauf einigen könnten, dass beides nebeneinander bestehen darf, sowohl die mehrheitliche als auch die seltene, aber genauso normale Variante der Geschlechtsentwicklung, dann wäre schon viel gewonnen. Und, by the way, auch die Weltgesundheitsorganisation ordnet das seit einigen Jahren so ein.

Die große Frage: Was ist ein gutes Leben?

Heute ist mir klar: Das Ringen meiner Tochter um sich selbst, ihr Ringen um das eigene Empfinden, hat nichts mit mir zu tun, sondern ist ihr ganz eigenes Thema. Es ist kein Angriff auf mich, keine Reaktion, schon gar kein politisches Statement. Es ist ein Puzzlestein ihrer Identität, eines von vielen. Jetzt, seit einem Jahr volljährig, sucht sie noch ganz anders: Wer bin ich beruflich, in der Liebe, politisch, wo ist mein Platz auf der Welt? Menschen haben so viele Dimensionen. Erwachsenwerden heißt, für sich herauszufinden, was ein gutes Leben bedeutet. Die Antwort meiner Tochter ist eine andere als meine. Und das ist auch gut so.
Die Erkenntnis mag banal klingen, aber ich habe ziemlich lang dafür gebraucht. Ich glaube, ich bin daran gewachsen. Und mehr Mutter geworden, als ich es jemals war.

Zum Weiterlesen:
„Queere Kinder“ (Beltz, 2023) ist erzählendes Sachbuch und Ratgeber zugleich, und richtet sich an Eltern und andere Sorgepersonen, die für Kinder und Jugendliche mit vielfältiger Geschlechtsidentität und/oder sexueller Orientierung verantwortlich sind, mehr zu dem Thema wissen wollen, sich aber auch mit den eigenen Gefühlen auseinandersetzen. Unsere Autorin Verena Carl hat es gemeinsam mit ihrer Kollegin Christiane Kolb geschrieben, die einen Master in angewandten Sexualwissenschaften hat und sich beruflich mit der Prävention sexualisierter Gewalt beschäftigt.

„Sei du selbst, und sei es kompromisslos“: Verena Carl interviewt Georgine Kellermann, Journalistin und trans Frau, für die ZEIT
Interview
Verena Carl

 

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