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„Gelebtes Leben wird nicht gewürdigt – und das kränkt“

Eva-Marie Kessler, Professorin für Gerontopsychologie, und Schauspielerin Ruth Reinecke sprechen über ein Thema, das uns alle früher oder später betrifft: das Alter. Und das hat mehr Facetten als Falten

Ruth Reinecke, Schauspielerin, 69 Jahre
Foto: René Fietzek
Prof. Dr. Eva-Marie Kessler, Gerontopsychologin, 48 Jahre Foto: Jens Jeske

Ruth Reinecke: In unserem Gespräch wollen wir über das große Spektrum der Diskussion um das Alter sprechen. Beginnen wir mit dem Bild von Alter. Viele kritisieren eindimensionale Altersbilder in der Öffentlichkeit, sehr viele Menschen nehmen Altersbilder gar nicht wahr. Woran liegt das?
Eva-Marie Kessler: Es existieren durchaus viele Belege für einseitige Altersbilder im öffentlichen Diskurs. Gesellschaftliches Altern wird in der Öffentlichkeit häufig im Kontext von Bedrohungsszenarien diskutiert. Dies spielt sich sprachlich in Begriffen wie ‚Überalterung der Gesellschaft‘ und ‚Pflegelast‘ wieder. Spätestens seit der Jahrtausendwende wurden ältere Charaktere in vielen Medienformaten in homogener Weise als aktive, glückliche, starke, finanziell wohlhabende, geistig rege und gut sozial integrierte Gruppe dargestellt beziehungsweise als „Altershelden“. Während der Coronapandemie gab es dann zumindest kurzfristig eine Wiederkehr des Bildes des vulnerablen, schwachen und schutzbedürftigen älteren Menschen.

Ist es denn problematisch, wenn von „Altershelden“ die Rede ist?
Vom defizitorientierten Altersstereotyp abweichende Rollenmodelle „erfolgreichen Alterns“ sind aus unserer psychologischen Sicht wünschenswert, allerdings suggerieren sie auch Normalitätsstandards, die von vielen älteren Menschen nicht erreicht werden können. Übertrieben positive mediale Repräsentationen älterer Menschen sind darüber hinaus eher als eine Art Gegenmaßnahme des negativen Altersstereotyps angelegt, die dadurch eher als ‚Ausnahme von der Regel‘ wahrgenommen werden, was problematisch ist. Aber auch allein die nachweislich erhebliche zahlenmäßige Unterrepräsentation älterer Menschen im öffentlichen Diskurs ist ein Problem. Es ist ein beständiger Befund, dass alte Menschen, vor allem alte Frauen und sehr alte Menschen, in Magazinen, Zeitungen, TV-Serien, Werbung und Talkshows stark unterpräsentiert sind.

Warum ist „Alter“ so ein komplexer Begriff, warum ist er gleichzeitig konkret und schwammig? Und wie schlüsselt man ihn auf?
Man kann natürlich Alter auf Grundlage des chronologischen Alters definieren. Häufig wird dazu dann das Renteneintrittsalter herangezogen, wobei selbst dann wenig Einigkeit zwischen Menschen besteht, ab wann das Alter anfängt – für die einen ist das das 50. Lebensjahr, für die anderen erst mit 75. Zieht man die Psychologische Altersforschung heran, spielt das chronologische Alter für die Definition von Alter eine untergeordnete Rolle, weil dessen Erklärungswert für Unterschiede zwischen Menschen gering ist. Danach ist Alter kein statischer Zustand, der irgendwann anfängt, sondern ein Entwicklungsprozess wie alle anderen Lebensphasen auch. Auch gibt es nicht „das Altern“, sondern viele verschiedenen Alternsdimensionen. Und zwar mindestens drei übergeordnete: biologisches Altern (also etwa wie die Vitalparameter einer Person ausfallen), soziales Altern (also etwa ob eine Person Großmutter ist) und psychologisches Alter (etwa wie gewissenhaft eine Person ist). Und dann gibt es auch das Altern aus der Innensicht, das heißt, wie alt fühlt sich ein Mensch beispielsweise, unabhängig vom tatsächlichen Alter.

Das klingt nach viel Spielraum statt Eindimensionalität.
Ja. Denn nach einer solchen Betrachtungsweise ist Altern nicht einfach nur unwiderruflicher Abbau. Altern bringt vielmehr Verluste und Gewinne mit sich, und Altern ist auch veränderbar und gestaltbar, durch das Individuum, aber auch durch sozial-kulturelle Faktoren wie Optionen für soziale Teilhabe oder die Qualität der Gesundheitsversorgung. Das höhere Lebensalter ist immer noch stark kulturell „unterentwickelt“, gleichzeitig kann man sagen, dass sich keine Lebensphase in den letzten Jahrzehnten so sehr verändert hat und in nächster Zeit verändern wird.

In das Thema Alter wird viel hineinprojeziert. In den Medien wird gern geschönt, dynamisiert, aber auch versteckt. Ist eine normale Betrachtung gesellschaftlich nicht erwünscht?
Wir haben in einer neuen Umfrage Personen ganz unterschiedlichen Alters danach gefragt, wie ältere Menschen nach Ansicht der Befragten sein sollen, welche Erwartungen es an sie gibt. Dazu haben wir unter anderem erfasst, inwiefern die Befragten zustimmen, dass ältere Menschen aktiv bleiben sollen. Fast alle Befragten (98 Prozent) gaben an, dass alte Menschen körperlich und insbesondere geistig aktiv bleiben sollten. Auch besteht eine gewisse Erwartung, dass ältere Menschen so lange wie möglich zum Wohl der Gesellschaft beitragen sollen. Da fällt die Zustimmung allerdings deutlich gemischter aus, es sind nur zwei Drittel, die zustimmen. Wir sehen aus unserer psychologischen Perspektive grundsätzlich ein hohes Potenzial einer gewissen Norm, aktiv zu sein, für das Gelingen eines guten Alterns. Allerdings muss gesellschaftlich darauf geachtet werden, dass es im Fall unzureichender Befolgung der Aktivitätsnorm durch alte Menschen – sei es wegen Unvermögen oder Unwillen – nicht zu Kritik oder gar Sanktionen oder Ausgrenzung kommt.

Ich habe das Gefühl, die Gesellschaft erwartet, dass Ältere sich zurückziehen. Und die tun das auch.
Ja. Die Studie zeigt, dass jeder Dritte von älteren Menschen erwartet, dass sie sich gesellschaftlich zurückziehen und nicht zur Last fallen sollen. Die relativ hohe Zustimmung gesellschaftlichen Rückzugs und Nicht-zur-Last-Fallen ist ein problematischer Befund, weil die Norm am ehesten altersdiskriminierende beziehungsweise altersselbstdiskriminierende Einstellungen und Verhaltenstendenzen widerspiegelt. Besonders interessant: Diese Erwartungshaltung war bei den  älteren Befragten selbst besonders stark ausgeprägt. Diesen Befund kann man als Hinweis auf einen verinnerlichten Ageismus bei älteren Befragten interpretieren. Aber auch so, dass es alten Menschen in unserer Gesellschaft an wahrgenommenen Gelegenheiten mangelt, ihrer Fürsorge gegenüber der Gesellschaft einen anderen Ausdruck zu verleihen als sich zurückzuziehen und nicht zur Last zu fallen. Hinter solchen Altersbildern und -normen stehen sicherlich immer auch Ängste vor dem (eigenen) Älterwerden und Altsein, die auf ältere Menschen projiziert werden.

Was ist eigentlich Altersdiskriminierung?
Für die breite Öffentlichkeit sind Sexismus und Rassismus mittlerweile einschlägige Begriffe. Was allerdings noch wenig Verbreitung gefunden hat – in der Sprache, und in der Wahrnehmung insgesamt – ist das Phänomen von Ageism oder auch Ageismus, ein international in politischen Zusammenhängen und in der Forschung sehr gebräuchlicher englischer Terminus. Analog zu Sexismus und Rassismus gilt auch für Ageismus, dass Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kategorie (in diesem Fall höheres Alter) negative Konsequenzen erfahren, die sich letztlich auch für die ganze Gesellschaft ungünstig auswirken – oft auch dadurch, dass sie mit anderen Merkmalen wie Gender, ethnischer Zugehörigkeit und Beeinträchtigungen zusammenwirken. Eine Facette von Ageismus ist, wie wir uns älteren Menschen gegenüber verhalten, wie wir handeln. Also wenn ältere Menschen ignoriert werden, bevormundet werden bis hin dazu, dass sie ausgeschlossen oder missbraucht werden. Dann kann Ageismus natürlich auch in Gesetzen, Regelungen, Strukturen und institutionellen Praktiken abbilden, von denen eine Benachteiligung älterer Menschen ausgeht, also institutionell-struktureller Natur sein.

Also ein strukturelles Fernhalten?
Ja. Denken Sie an Altersobergrenzen für öffentliche Ämter, an Hürden für ältere Menschen beim Zugang zu medizinischen Versorgungsangeboten, oder daran, dass in Unternehmen Angestellte über 50 Jahren nicht zu Weiterbildungsmaßnahmen eingeladen werden. Diese beiden Aspekte – ageistisches Verhalten und ageistische Strukturen – das ist eigentlich das, was man typischerweise auch als Altersdiskriminierung im Sinne von Benachteiligung und Schlechterstellung älterer Menschen bezeichnen könnte. Ageismus findet aber auch im Kopf statt und meint auch die Art und Weise, wie wir gegenüber älteren Menschen und der Lebensphase Alter denken und fühlen. Ich meine damit stereotype Vorstellungen über ältere Menschen, die da lauten, dass alte Menschen typischerweise senil, schwach und konservativ sind und auch damit einhergehende gefühlsmäßige Bewertungen wie Ressentiments gegenüber älteren Menschen oder Ärger – wir sprechen in der Psychologie von negativen Altersbildern und Vorurteilen. Und schließlich umfasst Ageismus auch bestimmte Normen, nämlich kollektiv geteilten Annahmen darüber, wie ältere Menschen sein sollen und wie sie sich verhalten sollen. Also zum Beispiel bescheiden sein oder aber auch geistig aktiv.

Unterscheidet sich der Ageismus gegenüber Diskriminierungsformen?
Ja. Ageismus ist häufiges, wenig erkanntes und oft unwidersprochenes Phänomen – daran besteht aus Sicht der Forschung kein Zweifel. Stärker als bei anderen -ismen besteht aber die Tendenz, Manifestationen von Ageismus zu rechtfertigen. Etwa die Vorenthaltung von Ressourcen unter Berufung auf vermeintlich natürliche Gegebenheiten im Alter („aber ältere Menschen sind ja auch nicht mehr so lernfähig“). Oder vermeintlich veränderte oder nicht mehr vorhandene Bedürfnisse älterer Menschen („in dem Alter wollen das ältere Menschen nicht mehr“). Diese Normalisierung des Ageismus geht typischerweise mit geringem Problembewusstsein einher, zuweilen auch mit Selbstrechtfertigung („das war doch nur gut gemeint“) und vehementer Zurückweisung der Identifikation bestimmter Verhaltensweisen als altersdiskriminierend („ist das nicht übertrieben?). Unbenommen davon ist die Frage, inwiefern Verhaltensweisen, Praktiken und Regelungen ageistisch sind, im Einzelfall dennoch in vielen konkreten Fällen nicht eindeutig zu entscheiden bzw. auch von der Betrachtungsweise abhängig.

In der Studie hat mich der Satz „Nichtwissen oder defizitäres Faktenwissen über Alter ist Ageismus“ sehr erschreckt. Brauchen wir mehr öffentliche Bildung übers Altern?
Ja, denn das Wissen über ältere Menschen und die Lebensphase Alter ist in der Regel sehr lückenhaft oder in einer Weise vereinfachend und verallgemeinernd, dass es dem Individuum nicht gerecht wird. Ursache dafür ist das historisch tief verankerte gesellschaftliche Altersstereotyp des hilfsbedürftigen und zurückgezogenen älteren Menschen, das zu einer Wahrnehmungsverzerrung führt. Aber auch das Phänomen, dass unsere Lebensläufe so strukturiert sind, dass natürliche Begegnungen zwischen den Altersgruppen außerhalb der Familie selten zustandekommen (junge Menschen: Ausbildung, mittelalte Menschen: Arbeit, alte Menschen: Freizeit). Dadurch mangelt es an Realitätsbezug.

Zwei Drittel der armen Alten sind Frauen, 62 Prozent der Menschen, die Grundsicherung bekommen könnten, nehmen dieses Angebot nicht in Anspruch. Aus Scham?
Ja, vermutlich spielt nicht nur Unwissenheit, sondern Scham eine große Rolle. Die Kränkung besteht darin, dass das gelebte Leben und das geleistete Engagement für die Gemeinschaft aus Sicht der älteren Personen nicht gewürdigt wird. In einer Lebensphase, in der die Integrität – das „Sein, was man geworden ist“ – eine zentrale psychologische Entwicklungsaufgabe ist, kann sich ein solches Erleben von ausbleibender sozialer Anerkennung besonders negativ auf das Wohlbefinden und die weitere Entwicklung auswirken.

Neben der Scham werden auch die angstbesetzten Themen des Alters ausgegrenzt. Sie verweisen auf die Notwendigkeit eines selbstliebenden Blicks aufs Alter und sprechen von Altersrückblick, Management und Planung. Was ist damit gemeint?
Ja, es bedarf dialogischer Erfahrungsräume, in denen Menschen in der zweiten Lebenshälfte ihr eigenes Alterserleben gemeinsam reflektieren und bewusst ihr eigenes Älterwerden nach ihren eigenen Vorstellungen, Wünschen und Bedürfnissen und in Abgleich mit ihren persönlichen „Modellen für gutes Altern“ planen können. Etwa im Bereich des Wohnens, der Gesundheit, des sozialen Engagements und des Nachlasses. Vernetzung und Austausch bieten die Chance, dass Individuen gängige Altersnormen kritisch hinterfragen und auf Passung zur eigenen Person prüfen können. Dazu gehört auch, dass ältere Menschen ein Bewusstsein für Situationen entwickeln, in denen sie Ageismus ausgesetzt sind. Eine „geistige Befreiung“ war immer der Ausgangspunkt für soziale Emanzipationsbewegungen, wie ich mir sie auch für die Rechte älterer Menschen wünsche.

Ruth Reinecke, geboren 1955 in Berlin, ist bekannt aus Theater-, Film- und Fernsehrollen. etwa aus der Serie „Weissensee“: Für ihre Rolle der Marlene Kupfer erhielt sie 2016 den Adolf-Grimme-Preis.

Eva-Marie Kessler, geboren 1976 ist Professorin für Gerontopsychologie an der MSB Medical School Berlin, dort ebenso Prorektorin für Interdisziplinarität und Wissenstransfer. Überdies ist sie Mitglied der Sachverständigenkommission für den Neunten Altersbericht der Bundesregierung.


Das Interview erscheint zeitgleich am 8. Juli 2023 in der Frankfurter Rundschau

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