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»Nomadland« An oder Aus?

Drei der wichtigsten Oscars gewonnen, und doch hat unsere Kritikerin ordentlich was AUSzusetzen

Das Leben in der Wüste für diejenigen, die ihre gesellschaftliche Verankerung verloren haben, »Nomadland« ©Disney

Worum es geht:

„Das letzte Stückchen Freiheit in Amerika ist ein Parkplatz“, schreibt die Journalistin Jessica Bruder im Vorwort ihres Buches „Nomaden der Arbeit: Überleben in den USA im 21. Jahrhundert“. Die Journalistin reiste nach der Finanzkrise 2008 ein Jahr lang im Van einer „Nomadin“ mit und beschreibt in ihrer Reportage das Leben der Working Poor, deren Freiheit darin besteht, durchs Land zu reisen, Gelegenheitsjobs zu übernehmen und auf dem Parkplatz oder in der Wüste zu übernachten.
Die Filmadaption »Nomadland«, die am Sonntag mit drei Oscars – beste Regie, bester Film, beste Hauptdarstellerin – ausgezeichnet wurde, mischt ins Dokumentarische die Fiktion. Fern, hervorragend gespielt von Frances McDormand, verliert erst den Ehemann und später ihr Haus, als die Minenstadt im ländlichen Nevada, in der sie lebt, aufgrund des wirtschaftlichen Zusammenbruchs aufgelöst wird und nicht einmal mehr eine Postleitzahl trägt. Ohne festes Einkommen, ohne Aussicht auf eine „geregelte Zukunft“, ohne Familie oder sonstige Bindungen beschließt Fern, ihr Leben auf die Landstraße zu verlegen. Zwischenzeitlich verdient sie sich Geld als Hilfsarbeiterin bei Amazon, als Putzkraft auf einem Campingplatz oder als Erntehelferin.
Bald entdeckt sie, dass unter den „Nomaden“ eine Gemeinschaft existiert, die ihr Kraft und Mut gibt. Die Regisseurin Chloé Zhao wählt hier Laiendarsteller, die sich selbst mimen, wie Linda May, Swankie oder auch Dave. Entstanden ist ein Roadmovie mit dokumentarischem Anspruch.

Linda May mit ihrem Hund Coco, die sich im Film selbst spielt ©Jessica Bruder
  • Frances McDormand

Ja, sie ist toll. Sie ist großartig. Auch dieses Mal. Frances McDormand ist der überragende Grund für ein klares AN! Seit ich sie das erste Mal sah, bin ich ergebener Fan: Für ihre Darstellung des hochschwangeren Sheriffs Marge Gunderson in „Fargo“ erhielt McDormand 1997 verdient den Oscar als beste Hauptdarstellerin. Ihr Ehemann und ihr Schwager – die Coen-Brüder – wurden als Regisseure dieses Werks ebenfalls mit dem Oscar geehrt, für das beste Originaldrehbuch. Frances McDormand war eine Wucht! Und das nicht zum ersten Mal. Bereits 1988 wurde sie als beste Nebendarstellerin für ihre Performance in „Mississippi Burning“ nominiert, ebenfalls für einen Oscar. Hier spielt sie Willem Dafoe und Gene Hackman an die Wand. Seit jeher fällt auf, dass McDormand keine Affektiertheiten kennt. Sie erscheint rau, unverblümt, authentisch. Ein Fest, dieser Schauspielerin bei der Arbeit zuzuschauen. Weder gibt sie sich je als Frauchen, noch mimt sie die unerreichbare Superfrau. In ihren Rollen verkörpert sie Menschen, die mit beiden Beinen auf dem Boden stehen, oft aber alles verlieren. Zuweilen amüsiert sie dabei, stets ist sie aber auf der mürrischen Seite des Lebens, was durchaus auch humorvolle Aspekte haben kann. Doch selbst eine großartige Schauspielerin wie Frances McDormand ist nicht vor Schubladen gefeit. So etabliert sie sich schleichend als Marke. Ihre Rollen ähneln sich immer mehr. Und so scheint die Fern aus „Nomadland“ in gewisser Weise eine Fortschreibung von Mildred Hayes aus „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ zu sein: Eine Frau mittleren Alters, die vom Leben in Situationen geworfen wird, die von ihr unkonventionelle Maßnahmen verlangen. Eine Frau, die sich nie geschlagen gibt, schon gar nicht vom Schicksal, sondern im Gegenteil alles tut, dieses selbst in die Hand zu nehmen. Soweit so gut, Hauptsache, es verkommt nicht zum Klischee, sodass ich gern weiter altere mit Frances McDormand.

Abonniert auf die Rolle der uneitlen, nicht aufgebenden Frau: Frances McDormand ©Disney
  • Der (sehr große) Haken

Leider gibt es neben Frances McDormand wenig Überzeugendes in diesem Film. Die Regisseurin versucht zwar redlich, vor allem mittels Menschen, die sich selbst spielen, Authentizität herzustellen. Leider misslingt ihr gerade der Anspruch auf „Wirklichkeit“ gründlich.
Die „Abgehängten der Straße“ entpuppen sich bald als esoterisch angehauchte Naturverliebte, die im Kreislauf von schlecht bezahlten Jobs, endlosen Fahrten auf den Highways und der Verbundenheit zu unberührten Landschaften ihre eigentliche Lebensbestimmung gefunden haben. Einer unter ihnen, Dave, tut sich als veritabler Guru hervor, versammelt regelmäßig seine Gefolgschaft in der Wüste, um dort in Camps die Arbeitsbedingungen des 21. Jahrhunderts anzuprangern. Trotz seiner eindringlichen Klage unternehmen er und auch die anderen nichts gegen das Leid, welches das Leben auf der Straße auch mit sich bringt. Das Arbeiten unter widrigen Bedingungen, was die Gesundheit dieser zumeist älteren Menschen aufs Spiel setzt.
Die Romantik macht hier jegliche Sozialkritik unbedeutend. Der Zweifel an den Praktiken eines Großkonzerns wie Amazon ist nicht identifizierbar. Es fällt in Anbetracht atemberaubender Landschaftsbilder von Kameramann Joshua James Richards auf Dauer tatsächlich schwer, sich zu viel mit den menschenverachtenden Praktiken von Amazon zu beschäftigen. Die Regisseurin Chloé Zhao bestätigt im Presseheft, es sei ihr am wichtigsten gewesen, wie sich die Protagonistin „in der Natur weiterentwickelt: In der Wildnis, den Felsen, Bäumen, Sternen, in einem Wirbelsturm entdeckt sie ihre Unabhängigkeit“.
Wie können wir Fern dafür verurteilen, sich beim Großverteiler ihren bescheidenen Lebensunterhalt zu verdienen und eben doch nicht ganz unabhängig zu sein? Denn jede Freiheit hat offenbar ihren Preis.
Die Buchvorlage allerdings kann das besser. Hier erfährt die Leserin, dass Amazon Steuergutschriften für die Einstellung von „Benachteiligten“ erhält, dass die Menschen zum Teil in Lagerhallen schuften, in denen es während der Sommerhitze zu unerträglichen Temperaturen kommt und die älteren Hilfsarbeiter trotzdem 50-Kilo-Lasten stemmen müssen. Amazons Antwort auf altersbedingte Rückenleiden: kostenlose Schmerzmittel für die Arbeiter.
Dieses Narrativ fehlt dem Film gänzlich. Stattdessen erzählt er ein bisschen von Menschen, die alles verloren haben, ein wenig von der Finanzkrise, ein kleines Stückchen von Solidarität und hier und da werden ein paar Sätze gegen die Machenschaften der Immobilienbranche wie beiläufig platziert. Der Film prangert nie an, sondern verharrt zwischen dokumentarischem Wegschauen und unkommentierter Überinszenierung. Das ist auf jeden Fall hübsch anzusehen.
Es bleibt wie es ist und so sehen wir auch Fern, wie sie sich bereits beim nächsten Weihnachtsfest einmal mehr bei Amazon abrackert. Dem Großversand ist das nicht nur egal. Stattdessen bewirbt er derweilen im „echten Leben“ die durchaus kritische Buchvorlage von Brude mit folgenden Zeilen: „Zehntausende Menschen in Amerika sind unterwegs. Sie leben in Wohnmobilen, Vans, Anhängern. Übernachten auf Supermarkt-Parkplätzen, neben den Highways, in der Wüste. Sie schaufeln Zuckerrüben in North Dakota, reinigen Toiletten in den Nationalparks von Kalifornien, arbeiten Zwölf-Stunden-Schichten im Amazon-Versandzentrum im winterlichen Texas. Eines haben sie oft gemeinsam: Sie sind alt.“ Hoppla – das ist wirklich authentisch, oder doch eher zynisch?

Von Annette Scharnberg

»Nomadland« im Kino, sobald diese wieder öffnen können. Disney Plus streamt den u.a. mit dreifach mit dem Oscar prämierten Film in seinem Abo.

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