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Palais F*luxx

Online-Magazin für Rausch, Revolte, Wechseljahre

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Na Fein!

Sylvia Heinleins Wochenjournal über die Stürme im Wasserglas des Alltags.
Diesmal: Rettungsanker

Werft einander Rettungsanker zu – und passt dabei auf, dass ihr niemanden damit umlegt!

Mittlerweile schlafe ich tagsüber sehr viel. Was ist davon zu halten? Ist das schon eine kleine Depression oder einfach nur Selbstschutz vor dem Grau und der Gesamtsituation da draußen? Über das reichliche Schlafen bin ich zur Expertin geworden, also höret, meine Luder: Wenn man einfach nicht aufstehen und noch ein bisschen weiterschlafen muss – das ist der allerbeste Schlaf, der warme, weiche Schlaf, der wie ein süßes, kleines Kaninchen ist … man möchte es nur noch eine Minute lieb haben, bevor es davonspringt.*


Ich telefoniere noch nicht einmal, es ist doch zu anstrengend. Manchmal verschicke ich stattdessen „Es tut mir leid für alles, was ich getan oder nicht getan habe“-Mails, Briefe oder gar Päckchen. Ich würde mich deshalb gerne als schlichte Humanistin bezeichnen dürfen, wenn das nicht zu hoch gegriffen wäre. An anderen Tagen initiiere ich per WhatsApp ein wenig Drama mit verflossenen Liebhabern, damit etwas Pfeffer in die trostlose Bude kommt. Immer schön das Zwischenmenschliche hochhalten, meine Luder, immer am Ball bleiben, sonst fliegt er ins Aus und es bleibt nur noch Kräuterteetrinken.


Gelegentlich lese ich eine kluge Zeitung, ich muss dabei reichlich überspringen, es sind zu viele kritische Denker*innen unterwegs, die alles Mögliche schmähen und erklären, warum die Dinge so und nicht anders gesehen werden wollen. Aber die Welt zu durchschauen, womöglich zu verachten, liegt mir nicht. Ich will sie lieben können, sie und alles, was auf ihr umher streunt, mit Liebe und Ehrfurcht und Bewunderung betrachten können.**


Wie unterhalten sich andere Menschen? Um es zu erfahren, telefoniere ich manchmal doch, aber nur, wenn ich mit Sicherheit weiß, dass es ein komplett müheloses Gespräch sein wird, diese Garantie gibt es natürlich nur sehr selten. Der Berliner meines Vertrauens ist im Homeoffice, als ich ihn erreiche. „Ich widme mich gerade meinem Schuhregal und überprüfe den Zustand der Lederschuhe“, berichtet er. „Ich habe festgestellt, dass an zwei Paaren einige Verbesserungen durchgeführt werden müssen und der Entschluss, sie zum Schuster zu bringen, gab mir ein gutes Gefühl.“ Genauso etwas brauchen wir jetzt doch, meine Luder: kleine, melancholische Geschichten von winzigen Rettungsankern für uns tapfere Borkenschiffchen.

*hübsch geklaut bei Katherine Mansfield (1888-1923), Mitbegründerin der amerikanischen Short Stories
**Fast ganz so gesagt wie Hermann Hesse

                                               

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