Sylvia Heinleins Wochenjournal über die Stürme im Wasserglas des Alltags.
Diesmal: Zwanglos und ungeniert
Ich denke über exzentrisches Verhalten nach, ich muss mir noch ein paar wunderliche Eigenarten zulegen, etwas in mir ruft danach, vielleicht das Alter. Bislang habe ich nicht wirklich Exotisches zu bieten; ich schlafe nachts zwar draußen, unter einem Anglerschirm, aber nur, wenn es regnet. Mein Lieblingshamburger Olli Schulz (nach Berlin umgezogen, pah!) war mit dem Filmemacher und Endachtziger Alexander Kluge bei einem kleinen, lauten, überfüllten Italiener essen. „Ich muss mal etwas ausruhen“, sagte Kluge mitten im Gespräch, stützte die Ellbogen auf den Tisch, legte die Hände vor dem Gesicht zusammen und verharrte so für zehn Minuten im lärmigen Trubel. Toll, das kommt definitiv auf meine Liste. Ich könnte auch Glöckchen an meinen langen Seidenkaftan nähen, damit es bimmelt, wenn ich durch die Gegend flaniere. Aber ich nähe ungern und Gebimmel macht mich nervös. Nun, die Exzentrik ist wie ein Schmetterling, unverhofft wird sie geflogen kommen und sich auf meiner Bakelit-Zigarettenspitze niederlassen.
Des Weiteren: Auch heute wieder mit dem Auto durch die verstaute Stadt geschlichen. Ich sollte leise, gesund und umweltfreundlich mit dem Fahrrad fahren, überlege ich jedes Mal, wenn ich im Auto sitze. Meine heutige gute Entschuldigung: Ich hatte meinen gebrechlichen Vater und einige Zentner Altglas dabei. Während der Fahrt tat ich wiederholt nette Dinge, wich bei Engpässen aus und ließ andere Wagen vor. Nur wenige Fahrer*innen bedankten sich bei mir, obgleich das Bedanken beim Autofahren ja keine große Sache ist: Man löst kurz die Fingerchen vom Lenkrad, nur die Fingerchen, das kann jeder Mensch, dachte ich bislang, und wer es nicht tut, ist ein unerzogener Stiesel. Aber ich möchte auf einen moral high ground kommen und alles richtig machen. Milde gedacht also: Manche Fahrer*innen sind wohl einfach furchtsam und verspannt, sie können sich nicht lösen, von gar nichts. All die anderen sind vermutlich ebenfalls nicht undankbar, sondern gefangen in ihren Gedanken, eventuell müssen sie um 18.30 zum Abendessen zu Hause sein, weil es sonst wieder schlimm Zores gibt und die Beziehung ja ohnehin nicht mehr das ist, was sie mal war, Sex gibt es nur noch sehr selten und anständig geküsst wird gar nicht mehr.
Umso mehr Menschen ich frage, wie es bei ihnen mit dem Küssen läuft, umso tragischer wird die Geschichte, ich muss Euch nichts erzählen, meine Luder: Nur wenige Paare küssen so, dass beide zufrieden sind. Entweder eine*r will zu wenig küssen oder zu viel, oder die Küsse an sich sind nicht stimmig. Singles berichten das Gleiche und eigentlich weiß jede*r, was zu tun wäre: Es müssen eben mehr Kusspartner*innen ausprobiert werden. Hemmungen sind fehl am Platze, man darf Personen, mit denen man gerne knutschen würde, das einfach mitteilen: „Ich würde dich gerne küssen, mit Zunge, ohne Hintergedanken, okay für dich?“ Bislang fand ich solch Angebot manches Mal unpassend, zum Beispiel im Sprechzimmer meines Arztes. Aber was soll man machen, die Sache will zwanglos und ungeniert angegangen sein, so wie der ganze schöne Rest des Lebens.