Buchbesprechung: „Auf allen Vieren“ von Miranda July
Das neue Buch von Miranda July knallt rein. Es handelt davon, wie sich Sex, Partnerschaft und das eigene Selbst in den Wechseljahren verändern – der Roman geht dabei weit über das konventionelle Erzählen eines Wandels hinaus
Worum geht es?
Die Geschichte beziehungsweise Geschichten in „Auf allen Vieren“ zusammenzufassen, ist nicht einfach. Sie beginnt wie ein Krimi. Der Nachbar, ein ehemaliger Agent, informiert die Protagonistin, dass ihr Haus von einem Unbekannten aus einem Auto heraus mit einem Teleobjektiv fotografiert wurde. Er habe sich das Kennzeichen notiert und könne ihr einen Privatdetektiv empfehlen. Dann verschwindet diese mysteriöse Teilgeschichte und wir folgen der Protagonistin, die irgendwas mit Kunst macht, einen Mann und ein Kind hat und sich aufmacht, mit dem Auto von Los Angeles nach New York zu fahren, wo sie einen Auftrag hat.
Sie fährt los, nach gut 50 Kilometern hält sie zum Tanken in Monrovia und mietet sich in einem Motelzimmer ein. Geplant für eine Nacht – aber es kommt anders. Denn an der Tankstelle hatte sie zuvor intensiven Augenkontakt mit einem jungen Mann, der ihre Scheibe geputzt hat. Die beiden treffen sich zufällig wieder, kommen ins Gespräch, in den nächsten Tagen zeigt er ihr Monrovia und sie lässt das Motelzimmer für 20.000 Dollar von einer Innenarchitektin einrichten. Ihren Mann täuscht sie durch Beschreibungen der Strecke nach New York, die sie gar nicht fährt. Diese Girl-meets-Boy-Geschichte dehnt sich aus, ebenso die Lüge und es bleibt lange unklar, was aus den beiden wird. Kriegen die sich? Wollen die sich? Zumal die Innenarchitektin die Frau des Boys von der Tanke ist. Ja, und dann startet Teil Zwei des Romans und es geht holterdiepolter weiter und zwar in unvorhersehbare Richtungen – was ja ein Kernkunststück von July ist. Das nachzuerzählen würde nicht nur schwer möglich sein, sondern auch den weiteren Drive von des Romans spoilern. Denn Drive hat das Buch. Wirklich! Und es hat jede Menge Sex, und zwar EXPLIZITEN Sex, so EXPLIZIT, dass er heiß macht. I swear, I sweat.
Was kann es?
Miranda July hat die Gabe, sehr toll Sexszenen zu beschreiben. Sie kann so erzählen, dass Du in einen Sog gerätst – nicht nur wegen der Sexszenen. „Auf allen Vieren“ habe ich an zwei Tagen gelesen, weil sich die Geschichten drehen und wenden und ständig etwas geschieht, mit dem Du nicht rechnest. Und dieses Überrascht-Werden macht Spaß. Der Roman kann Dich auch mit Deinen eigenen Grenzen konfrontieren – kognitiv, emotional und sexuell. Er kann ein Spiegel Deiner sexuellen Offenheit sein, Deiner Suche danach, er kann Dich aber auch richtig durchschütteln, anwidern und: überfordern.
Im Grunde ist „Auf allen Vieren“ so etwas wie eine Coming-of-Age-Geschichte: Ist damit eigentlich der Übergang vom Kind zur Erwachsenen gemeint – wobei das Tor die Pubertät ist – so beschreibt Miranda July die Transformation von der erwachsenen zur sich befreienden Frau, die durch das Tor der Wechseljahre schreitet, und zwar mit allen Turbulenzen, die ja beide Lebensphasen mit sich bringen.
Was hat das mit mir zu tun?
Ich mag Miranda July als Regisseurin sehr und ich mochte ihre Bücher „Es findet dich“ und „Zehn Wahrheiten“. Ich mag die Art, wie sie schreibt, die schwer zu erklären ist. Ihre Sichtweisen wirken auf mich naiv-kindlich, offenbarend und gleichzeitig sonderbar und tiefgründig. Ich finde es schön, wie sie um die Ecke denken und schreiben kann. Wer ihren Film „Kajillionaire“ noch nicht gesehen hat, sollte es tun. Ich finde, viel von dem, wie sich „Auf allen Vieren“ anfühlt, erlebt man mit dem Film.
Warum sollte mich das interessieren?
Siehe oben. Oder, wenn Du das Gefühl hast, Deine Wechseljahre beginnen. In dem Buch tauchen viele Fragen auf, die mit der Perimenopause zu tun haben. Ich habe gemerkt, dass mich gerade das gar nicht mehr interessiert. Miranda July war Mitte 40, als sie mit dem Roman begann – auf Instagram sagt sie, dass sie vier Jahre daran gearbeitet habe. Sie ist also genau so alt wie die Protagonistin ihrer Geschichte, die im Übrigen namenlos bleibt. Ich habe den Eindruck, dass die Autorin nicht nur sich selbst beschrieben, sondern sich persönlich auch mit den Wechseljahren befasst hat. Dem Magazin The New Yorker sagte sie, dass sie nicht nur über die Veränderung geschrieben habe, sondern dass das Buch auch sie selbst verändert habe.
Woran hakt es?
An den Wechseljahren. Die Passagen, in denen es ausdrücklich darum geht, waren mir persönlich zu edukativ und ich habe sie ein bisschen als Fremdkörper empfunden, stilistisch und erzählerisch. Es gibt sogar eine Grafik auf Seite 215, die beschreibt, wie rapide der Östrogenspiegel sinkt und es kommen Frauen zu Wort, die über ihre Menopause sprechen, wie sie sich fühlen, was sich verändert hat und so weiter und so fort.
Für mich geht es in dem Buch eher um das große Thema Identität. Identität als Frau, als Mutter, als Ehefrau, als ein Mensch, der begehrt, wer auch immer ihm/ihr/es über den Weg läuft. Für mich ist die Protagonistin auf der Suche nach der tiefsten Verbundenheit, die sich für sie scheinbar zunächst nur im Sexuellen finden lässt. Es ist dann eine ältere Frau, mit der sie Sex hat, und (…). Mehr möchte ich darüber nicht verraten, weil es eine elementare Szene ist und für mich das Leitthema des Romans spiegelt: Wie kommen wir unserer Lebenssehnsucht näher? Was bedeutet es, sich fallen lassen zu können? Wie schafft man das? Und was passiert, nachdem wir alles riskiert haben?
Wer ist die Autorin?
Miranda July ist 50 Jahre jung, Regisseurin, Schriftstellerin und Performancekünstlerin. Sie ist mit dem Regisseur Mike Mills zusammen, die beiden haben ein Kind und leben in Kalifornien. July hat einige Bücher geschrieben und Filme gemacht, bis zum 18. Oktober sind ihre Arbeiten in der Ausstellung New Society in der Fondazione Prada in Mailand zu sehen.
Kostprobe
„Als ich zum Kontrolltermin bei meiner Frauenärztin kam, saßen außer mir noch zwei weitere Frauen im Wartezimmer, die eine jung und schwanger, die andere so um die fünfundsiebzig. Die Schwangere war ganz in ihre Zeitschrift vertieft und schien sich rundum wohlzufühlen, das Zentrum des Universums. Falls sie uns ältere Frauen überhaupt wahrnahm, taten wir ihr allenfalls leid. Sie steckte mitten in etwas sehr Aufregendem, sehr Richtigem, und nach dieser Phase wäre dann ein Baby da, und es war zwar nicht klar, wie es danach für sie weiterging, aber bestimmt auch gut! Immer besser und besser! Und die Frau Mitte siebzig, nun ja, niemand außer der Ärztin wusste – oder konnte auch nur erahnen –, was zwischen ihren Beinen los war, auch wenn ich es mir vorzustellen versuchte und ausgeleierte graue Schamlippen sah, Ballsäckchen ohne Bälle drin. Wie fühlte es sich an, seine Muschi Jahr für Jahr in dieselbe Praxis zu schleppen, Jahrzehnte nachdem das ganze Fortpflanzungstrara zu Ende war? Sie scrollte auf ihrem Handy, störte sich anscheinend nicht daran oder wusste gar nicht, dass sie sich auf nichts mehr freuen konnte, muschitechnisch.
Irgendwie war es nicht richtig, dass wir alle drei im selben Zimmer saßen. Beim Kinderarzt gab es ein Wartezimmer für die kranken Kinder und eins für die gesunden, und in der gemeinsamen Wand befand sich ein Aquarium, durch dessen Scheiben man die jeweils andere Gruppe anstarren konnte. Man sah sie durch das blassgrüne blubbernde Wasser leicht verzerrt, und ab und zu schwamm ein Fisch vorbei; ich hätte es angebracht gefunden, die anderen Frauengenerationen durch so einen Schleier zu sehen. Vielleicht drei Wartezimmer/zwei Aquarien, durch die wir einander wortlos anschauen konnten in dem Wissen, dass jedes Lebensalter nur ein flüchtiger Traum war, den wir entweder schon gehabt hatten oder der uns noch bevorstand, ohne eine Möglichkeit, in die Sphäre der jeweils anderen vorzudringen.“
Miranda July: Auf allen Vieren, übersetzt von Stefanie Jacobs, Kiepenheuer & Witsch, 416 Seiten, 25 Euro
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Besprechung: Anette Frisch