Buchbesprechung „Die Mitte des Lebens. Eine Philosophie der besten Jahre“ von Barbara Bleisch
Die Philosophin Barbara Bleisch geht in ihrem Buch verschiedenen Überlegungen über die Mitte des Lebens nach. Unsere Autorin Anette Frisch ist hin und hergerissen zwischen Interesse, Langeweile und Unverständnis
Worum geht es?
Barbara Bleisch beschäftigt sich mit der Frage, ob es so etwas wie die Mitte des Lebens überhaupt gibt und wenn ja, welche Qualitäten diese Zeit der „existentiellen Umbrüche“ auszeichnet. Ihr Buch sei kein Ratgeber, so schreibt sie, sondern eine topografische Erkundung dieser Lebensphase. Die Schweizerin geht dabei vom eigenen Erleben aus bevor sie die Blende aufreißt, das Ganze im philosophischen Kontext betrachtet und Überlegungen von Kolleg:innen in ihre Erkundungen hineinsampelt.
Was kann es?
Barbara Bleisch fasst verständlich verschiedene philosophische Theorien zusammen, die zur Mitte des Lebens passen. Sie erklärt die Ansätze und verwebt sie miteinander. Das kann inspirieren und dazu anregen, sich mit den Ideen auseinanderzusetzen.
Gerade zu Beginn des Buches zieht sie ins Thema hinein. Die Autorin nimmt uns mit auf einen Spaziergang durch eine Landschaft, die sie schon als Kind erkundet hat. Irgendwann liefen ihre Kinder an ihrer Seite und nun ist sie wieder allein unterwegs, weil die Kleinen das große Leben an anderen Orten vermuten. Das Thema Zeit spielt also eine Rolle, das Zeitempfinden, auch die Wehmut darüber, dass wir erst im Rückblick unser Leben verstehen.
Was so weich, nachvollziehbar und inspirierend begann verliert sich im Lauf des Buches. Vielleicht liegt es daran, dass Barbara Bleisch eine philosophische Betrachtung an die nächste reiht. So, als ginge es darum, eine theoretische Abhandlung zum Thema zu schreiben. Es breitet sich eine Fülle von unterschiedlichen Perspektiven aus, die sie zwar kommentiert, aber nicht gewichtet. Barbara Bleisch spricht von „topografischen Erkundungen“, wenn sie ihre Herangehensweise erklärt. Ich gehe also mit ihr durchs Gelände der Lebensmitte und finde dies und das. Dagegen wäre nichts zu sagen, wenn die Kraftanstrengung inspirierend wäre, überraschend und erkenntnisreich.
Warum verärgert mich das Buch?
Inspirierend, überraschend, erkenntnisreich – das ist es für mich alsbald nicht mehr. Spätestens dann, wenn ich mich zunehmend darüber ärgere, dass sie zu 90 Prozent Philosophen und Schriftsteller zitiert oder ihre Theorien ausführlich darlegt. Friedrich Nietzsche, Søren Kierkegaard, Jürgen Habermas … you name it. Das finde ich so irritierend, dass ich damit beginne, an den Seitenrand das Symbol für Frau oder Mann zu malen, weil ich am Ende die Gewichtung zählen möchte. Ich kann nicht glauben, dass es keine zeitgenössischen Philosophinnen gibt, die sich über die Mitte des Lebens Gedanken machen. Gerade Frauen beschäftigen sich doch in dieser Lebensphase mit existenziellen Fragen – Philosophinnen oder Soziologinnen sind davon nicht ausgenommen. Oder liege ich falsch?
Ich verlasse also meine neutrale Leserinnenposition und werde immer kritischer. Jetzt beginnen mich manche Formulierungen zu stören, die ich als plattitüdenhaft empfinde. Zum Beispiel wenn Barbara Bleisch schreibt: „(…) was Hänschen nicht früh genug gelernt hat, dafür ist Hans nun leider zu alt.“ Sie meint damit, dass wir ab einem bestimmten Alter zum Beispiel keine Ausbildung beginnen oder eine erfolgreiche Künstlerin werden können. Und jetzt bin ich schon so kritisch, dass ich darin eine neoliberale Haltung vermute. Denn warum sollte der Erfolg im Mittelpunkt stehen? Und warum sollte ich mit Mitte 50 nicht doch noch eine Ausbildung zur Physiotherapeutin machen können? Weil ich es mir materiell nicht mehr zutraue? Weil es mir fremd erscheint, mit Mitte 20-Jährigen im Seminar zu sitzen? Weil ich keine Ausbildungsstelle finde? Klar, das alles kann sein, aber die Möglichkeit hätte ich doch! Auch mit Mitte 50. Warum denkt eine Philosophin so eingeschränkt, frage ich mich, und finde im Buch keine Stelle, die meinen Eindruck relativiert.
Und dann ist da noch ein Aspekt, der mich stört. Zum philosophischen Kanon gehört, dass der Mensch sich vom Tier unterscheidet, weil er – der Mensch – sicher weiß, dass er sterben wird. Das Tier weiß das angeblich nicht. So lebt es sorgenlos und instinktgetrieben in den Tag hinein. Woher nehmen wir dieses Wissen? Aus neurobiologischen Ergebnissen zum Beispiel, die nichts anderes spiegeln als Einsen und Nullen? Für mich ist diese Auffassung überholt. Denn indem wir die vermeintliche Sonderstellung des Menschen im Beziehungsgeflecht mit der Welt betonen, entfernen wir uns weiter von der Natur. Die Folgen? Sieh dich um.
Was hat das mit mir zu tun?
Ich beschäftige mich gern mit philosophischen Fragen, deshalb habe ich mir das Buch besorgt. Außerdem loben Carolin Emcke und Daniel Schreiber die Publikation. Beide finde ich ganz gut und ihre positiven Kritiken haben mein Interesse für das Buch geweckt: „Barbara Bleisch denkt mit unbestechlicher Offenheit und wagt sich an die großen Fragen (…)“, schreibt Carolin Emcke. Und Daniel Schreiber offenbart: „Ich möchte dieses kluge Buch allen Freundinnen und Freunden schenken, die nicht mehr ganz jung und noch nicht ganz alt sind.“ Ich bekomme meine Leseerfahrung nicht mit den Lobeshymnen der beiden überein.
Dass ich Barbara Bleischs Buch nicht mag, ist für mich kein schönes Gefühl. Denn ich stelle mir die emotionale Verbundenheit der Autorin mit ihrem Werk vor und weiß um die Arbeit, die dahintersteckt: Die Recherche, das Denken, die Zweifel und dann: Endlich geschafft!
Über die Autorin
Barbara Bleisch, geboren 1973, lebt mit ihrer Familie in Zürich und ist Mitglied des Ethik-Zentrums der Universität Zürich. Seit 2010 moderiert sie die Sendung „Sternstunde Philosophie“ beim Schweizer Radio und Fernsehen SRF. Von 2017 bis 2019 war sie akademischer Gast am Collegium Helveticum. Bei Hanser erschienen: „Warum wir unseren Eltern nichts schulden“ (2018) und „Kinder wollen. Über Autonomie und Verantwortung“ (2020).
Kostprobe
In der Mitte des Lebens ist denn auch eine der wichtigsten Lektionen, die es zu lernen, und auch die bittere Pille, die es zu schlucken gilt, dass das allermeiste Übung braucht, also Zeit und dauerhaftes Engagement. Viele vermeintlich spätberufene Künstlerinnen, Autoren oder Wissenschaftlerinnen haben bereits seit ihren Zwanzigern gezeichnet, geschrieben, berechnet. Angesichts der Vergänglichkeit des Lebens wird die Einsicht, dass in den meisten Fällen nur Übung den Meister oder die Meisterin macht, notgedrungen zum Problem. In der Mitte des Lebens lässt sich nämlich nicht mehr zu allem sagen: Später. Für vieles wird die Zeit nicht mehr reichen. Das Sprichwort „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ ist nicht nur eine Rechtfertigung dafür, dass man Hänschen beizeiten erziehen muss, damit ein anständiger Hans aus ihm wird. Das Sprichwort ist genauso ein Grund zum Bedauern. Was Hänschen nicht früh genug gelernt hat, dafür ist Hans nun leider zu alt.
Barbara Bleisch, Die Mitte des Lebens. Eine Philosophie der besten Jahre. Hanser Verlag, 280 Seiten, 25 Euro
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Besprechung: Anette Frisch