In ihrem achten Lebensjahrzehnt ist es soweit: Milla Burckhardt heiratet. Hier schreibt sie über ihr Leben, das sehr lang ohne Ehemann gut war – bis sie auf einem Datingportal landete
Heiraten war für mich nie ein Thema. Die Träume der Mitschülerinnen auf dem Mädchengymnasium waren nicht die meinen. Ich hatte nichts gegen Männer, ich liebte selbst den entschwundenen Vater. Aber sich an einen Mann zu binden und abhängig zu sein – das war kein Ideal, sondern ein Schreckgespenst. Ich sah an meiner Mutter, wohin solch ein Weg führte. Sie hatte sich von ihrem Mann wegen seiner ständigen Affären kurz nach dem Krieg verabschiedet und gehörte seitdem zu der Sorte von Alleinerziehenden, denen – zumindest im Westen – kein Respekt gezollt wurde: eine geschiedene Frau, die arbeiten gehen musste. In den 1950er Jahren war klar, dass sie ihren Mutterpflichten nicht genügen konnte. Anders als die Frauen, deren Männer „im Krieg geblieben waren“, war sie als Geschiedene ja selbst schuld. Und dann hatte sie auch noch in ihrem Stolz auf eigenen Unterhalt verzichtet und nur den minimalen für ihr Kind eingefordert. Der auch nicht regelmäßig kam. Sie verdiente nicht viel, wir waren arm.
Im Hörsaal saß ich zum ersten Mal neben einem Mann meines Alters
Außer Lehrern und vielleicht mal einen Handwerker bekam ich kein männliches Wesen zu Gesicht. In Romanen und Tagträumen gab ich mich der Sehnsucht nach dem wunderbaren Mann hin, der mein Leben endlich lebenswert machen würde.
Ich schaffte das Abitur mit Ach und Krach, trotzdem war es für meine Mutter selbstverständlich, dass ich ein Studium aufnahm. Sie war stolz auf mich, denn ich war das erste Mitglied unserer Familie, das eine Universität von innen sah. Für mich erschien das Studium als der einzige Weg zu Erkenntniswelten, interessanten Kontakten und einer sicheren Existenz. Mit den Kindern aus bürgerlichen Elternhäusern hatte ich allerdings wenig gemein: Meine Eltern waren versprengte Intellektuelle, die den Nationalsozialismus mithilfe von Lügen überstanden und auch danach als Linke keine Heimat gefunden hatten.
Im Hörsaal saß ich zum ersten Mal neben Männern meines Alters, sie waren die Mehrheit. Erschrocken stellte ich fest, dass die neue Realität nichts mit meinen Träumen zu tun hatte. Ich empfand keine Neugier, nur Angst. Noch nie hatte ich vorher mit einem Jungen einfach nur geplaudert oder irgendetwas unternommen. Ich hatte nur geträumt, wie es wäre, wenn … Aber nun war das Wenn Wirklichkeit und ich verließ die ersten Vorlesungen voller Panik und Angst vor der nächsten. Aliens hätten mir nicht fremder sein können. Und natürlich sprach mich kein junger Mann an. Ich musste die Nähe zum anderen Geschlecht einüben. Immerhin traf ich Frauen, mit denen ich mich austauschen konnte und erfuhr, dass auch andere die Universität angstvoll erlebten. Keine jedoch erlebte diesen Zwiespalt zwischen der Sehnsucht nach heterosexueller Liebe und panischer Angst.
Als Studentin lernte ich, dass ich eine begehrenswerte Frau war
Nach der Erfahrung, dass so gut wie nichts zwischen mir und den männlichen Nachbarn im Hörsaal passierte, nahmen die Ängste allmählich ab. Durch Freundinnen, die ich allmählich fand, kam ich dann doch mit Männern in Kontakt. Und ich begann, studentische Feste zu besuchen. Irgendwann verliebte ich mich, alles ging schief, ich verliebte mich wieder, es ging wieder schief. Nur langsam wendete sich das Blatt: Ich traf Männer, die mich attraktiv fanden, wurde gemocht, und als der Sex begann, begann sich das Glücksradzu drehen. Sex war überhaupt das Tollste. Erst recht, als es die Pille gab. Ich lernte, dass ich eine begehrenswerte Frau war.
Heiraten war auch mit den neuen Erfahrungen nicht mein Ziel. Ich hatte schon im Studentinnenheim erlebt, wie Mädchen ihr Studium abbrachen, weil ein Mann in ihr Leben getreten war, während ich mich mühevoll noch durch wissenschaftliche Literatur und Seminare kämpfte. Eine harmonische Beziehung? Ja, das wäre schön …Aber die Realität sah anders aus. Es gab gebundene Liebhaber, bei denen sich jede weitere Frage nach Bindung erübrigte – sie hatten ja schon eine. Es gab Eifersüchteleien des Geliebten oder von mir. Es gab das zähe Ringen um Anerkennung von Männern, die mich nicht liebten. Und umgekehrt. Inmitten all der Höhen und Tiefen des Liebeslebens behielt ich jedoch mein Ziel eines befriedigenden Berufs bei, schloss das Studium ab und nahm die Erwerbsarbeit auf. Auch dort gab es Widerstände und Misserfolge, aber nach knapp zwei Jahrzehnten hatte ich eine feste Stelle in meinem Traumberuf erreicht.
Ich dachte, ich würde schon jemanden finden, der den Kinderwunsch einer 40-Jährigen mittragen würde
Nun konnte ich ein Kind bekommen. Ich war in der Lage, es alleine aufziehen, ohne in Armut zu versinken. Heirat war von daher nicht mehr völlig abwegig, im Gegenteil: Es wäre schön, jemanden zu finden, der den Kinderwunsch einer 40-Jährigen mittragen würde. Ich suchte also nach einem Vater für mein Kind, lernte auch jemanden kennen, vergaß aber in meiner blinden Verliebtheit, auf ein entscheidendes Merkmal zu achten: Wollte der Geliebte überhaupt ein Kind? War er in der Lage, Verantwortung zu übernehmen? Er konnte und wollte nicht, stellte sich heraus, und so stand ich nach kurzer Familienzeit mit meinem Kind alleine da. Die Tage waren durch meinen kleinen Schatz und den Beruf so ausgefüllt, dass ich erstmal darauf verzichtete, wieder nach einem Mann zu suchen. Aber mit der Zeit begann ich erneut damit. Weitere zwei Jahrzehnte vergingen, weitere Beziehungsversuche scheiterten, das Kind wurde groß, ich war allein. Über Datingportale fand ich nach der Pensionierung einen netten Ossi, der immerhin links war, und darüber hinaus hatten wir ähnliche Interessen. Er war verheiratet, getrennt lebend, für die Scheidung hatte es emotional und finanziell nicht gereicht. Nun ja, es gibt Schlimmeres für eine Beziehung. Wir mochten uns immerhin.
Ein Witwer schrieb mich auf der Datingplattform an. Ich dachte, ich sei nur neugierig
Das Wunder geschah durch einen verrückten Zufall. In einem Datingportal, das ich gekündigt hatte, war ich, ohne es zu wissen, noch als Suchende vermerkt. Dort hatte ich – inzwischen 75 Jahre alt – von meiner Sehnsucht nach einer emotional und erotisch befriedigenden Beziehung geschrieben – und wurde gefunden. Ein Witwer, der jahrelang seine schwerstkranke Frau gepflegt hatte, warb um mich. Ich hatte noch nie einen Mann erlebt, der seine eigenen Interessen zurückgestellt und sich in den Dienst seiner Lieben gestellt hatte. Ich war neugierig, das war alles. Dachte ich. Es kam anders. Es knallte, als wir uns sahen. Wir verliebten uns, waren beide begeistert voneinander. Ich musste mich von meinem Freund trennen. Und wurde endlich so geliebt, wie ich selbst liebte. So kam es, dass ich dann doch noch, mit 78 Jahren, in den Hafen der Ehe einlief.
Die kommenden Zeiten werden aufgrund unseres Alters nicht einfacher, aber egal: Mein Traum hat sich erfüllt. Und ich kann nur jeder Frau raten: Lass dich nicht vom Träumen abhalten.
Wenn Ihr auch etwas getan habt, das in dem jeweiligen Lebensalter als ungewöhnlich gilt, schreibt es auf! Wir freuen uns über Eure Stories unter mail@palais-fluxx.de und veröffentlichen sie an dieser Stelle!