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Palais F*luxx

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Lesen oder lassen?

Buchbesprechung: „Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe“ von Doris Knecht

Worum geht es?

Die Ich-Erzählerin, die in einzelnen Kapiteln aus ihrem Leben berichtet , ist eine österreichische Autorin in ihren frühen Fünfzigern. Sie ist an dem Punkt, an dem ihr Leben eine Wendung nimmt. Ihre Kinder ziehen aus, und da sie sich die Familienwohnung nicht mehr leisten kann, muss sie eine neue Wohnung suchen. Mit dem Auszug der Kinder und der Suche nach einem neuen Zuhause, das sie zum ersten Mal nach zwei Jahrzehnten allein bewohnen wird, ist ein Abschiedskanon eingeläutet, der sie auch an ihren eigenen Auszug aus ihrem Elternhaus denken lässt, an die Zeit als junge Erwachsene, an ihre Liebhaber und das Verhältnis zu ihren vier Schwestern.

Was hat das mit mir zu tun und warum sollte mich das interessieren?

Mit mir hat das Buch sehr viel zu tun, denn in Teilen habe ich das Gefühl, die Autorin Doris Knecht sitzt in meinem Kopf. Die Ähnlichkeiten in den Gedanken und Gefühlen mögen mit der Ähnlichkeit der Lebenssituation zu tun haben. Damit, mit Pop und Punk sozialisiert worden zu sein, im Schreiben Halt und Arbeit gefunden zu haben und sich in einer Lebenssituation jenseits von Festanstellung und den damit verbundenen Sicherheiten zu bewegen.
Auch ist ihre Haltung ihren Kindern gegenüber der meinen sehr ähnlich, mit der ich versucht habe, das Großwerden meines Sohnes als notwendigen, aber doch auch sehr schmerzhaften Prozess zu verstehen.

Was kann das Buch?

Ich glaube, dass das Buch Frauen, die sehr gefangen in einer traditionellen Vorstellung von Familie sind, gefangen in einer traditionellen Idee von Frau und Mutterrolle, nicht unbedingt abholen kann. Die Ich-Erzählerin, die viele biografische Parallelen zu der Autorin aufweist, ist eine – im Sinne von Unabhängigkeit – sehr moderne Frau. Ihr Lebenssinn, der Wert, den sie sich selbst beimisst, und die Frage, wie sie ihre Zeit gestaltet, hängen nicht sehr von ihrer Rolle als Mutter ab. Die Ich-Erzählerin ist vielmehr eine autarke, autonome Person, die mit Hingabe Mutter ist – aber in erster Linie Frau.
Sie befindet sich fern vom Kitsch des Kümmerns und dem Zucker der Sorge. Sie ist realistisch und stark selbstreflektierend und ehrlich mit sich selbst. Damit ist sie das Gegenstück zu dem Frauenbild, das noch immer in Frauenzeitschriften abgebildet wird: die Frau als Individuum, die Emanzipation so versteht, auf ihr Äußeres zu achten, eine gute Zeit mit Freundinnen zu haben, am Ende aber doch unablässig um das Wohl der Familie bemüht zu sein (man fährt drei Tage mit der Freundin weg, wenn klar ist, dass die Mahlzeiten für die Familie tiefgekühlt bereitliegen).

In diesem Buch geht es weniger um das Wohl der Familie, sowohl der eigenen als auch der Herkunftsfamilie, als vielmehr um die Frage, wer bin ich, wenn sich jetzt alles auflöst? Wenn ich die Wohnung aufgebe, in der ich mit meinen Kindern und früher noch mit dem dazugehörigen Vater gelebt habe, wenn ich mich von den Möbeln trenne, von den Bildern an der Wand und all das draußen lasse, mit dem man so eine Wohnung, in der man mit Kindern lebt, zustellt.
In diesem Sinne kann das Buch viel, denn Doris Knecht stellt stellvertretend für viele von uns die Fragen, die sich an diesem Zeitpunkt des Lebens stellen.
Manchmal ist das fast ein wenig zu banal, die Beispiele, die Erinnerungen, die sie bemüht zu belanglos, aber im Großen und Ganzen ist „Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe“ ein schönes, berührendes Buch.

Und ist auch etwas ärgerlich?

Ja, der Klappentext. Dort heißt es: „Doris Knecht schreibt über eine Frau, die dabei ist, ein neues Leben zu beginnen. Doch zuvor muss sie erst noch was erledigen.“
Das ist völliger Bullshit. Weder gibt es dieses „vorher“, noch gibt es das, was zu erledigen wäre. Was die Erzählerin erledigt, ist das schwierige Unterfangen, für wenig Geld eine Wohnung zu finden, den Prozess, diese zu gestalten und sich dabei von ihrem bisherigen Leben zu verabschieden. Das ist die Geschichte.
Irgendjemand, der das Buch nicht kennt oder der Weisung folgt, irgendetwas hinzuklötern, das nach viel klingt, hat diesen Mist verzapft, und es ist ein großes Ärgernis, dass ein Verlag wie Hanser eine so billige Verkaufe nötig hat. Oder Leute beschäftigt, die Dinge über Bücher schreiben bzw. Klappentexte zu Büchern klöppeln, die sie nicht gelesen haben.
Dass der Titel irreführend ist, weil das Buch weder eine Liste ist noch irgendetwas, das die Erzählerin vergessen hat, ist auch ein wenig eigenartig, fällt aber unter die Freiheit einer Literatin, ihr Buch sonstwie zu nennen, weil es Kunst ist.

Über die Autorin

Doris Knecht, 57 Jahre alt, ist eine österreichische Journalistin und Schriftstellerin. Alles, was sie schreibt, ist hochgelobt. Ihr erster Roman, „Gruber geht“ (2011), war für den Deutschen Buchpreis nominiert und wurde fürs Kino verfilmt. Sie schreibt Kolumnen für die Wiener Wochenzeitung „Falter“ und für die „Vorarlberger Nachrichten“. Die Verfilmung ihres Buches „Wald“ kommt im Herbst 2023 in die Kinos.

Kostprobe

Wenn meine Schwestern neben mir stehen, bemerkt man mich nicht. Ich verschwimme im Hintergrund. Das ist vermutlich der Grund, warum ich so schnell wie möglich von zu Hause weg bin und seither darauf achte, dass zwischen uns eine gesunde Distanz liegt.
Ich musste mein Zuhause verlassen und fast siebenhundert Kilometer weit wegziehen, um sichtbar zu werden und festzustellen, dass ich eine ganz normale, durchschnittlich attraktive Frau bin, nicht auffällig schön, nicht hässlich. Ich vergesse das sofort, sobald eine meiner Schwestern in der Nähe ist, oder, wahrscheinlicher, alle vier auf einmal.

Doris Knecht: „Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe“, Hanser-Verlag, 240 Seiten, 24 Euro, hier bestellen

Rezension: Silke Burmester

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