Wen haben wir schon verloren und was können wir tun bei ungeklärten Abschieden?
Gyde Greta Cold weiß: Über Ängste und Trauer ins Gespräch zu kommen, macht nicht nur das Sterben leichter – sondern auch das Leben
Weil der Tod so unangenehm ist, vergessen wir, wie oft wir uns schon verabschieden mussten von Menschen, die wir liebten, mochten oder die wir wenigstens kannten. Wie oft saßen wir eng eingequetscht auf den Gebetsbänken in eiskalten Kirchengemäuern und lauschten den ausufernden Worten eines Pfarrers, immer darauf wartend, dass sicherlich gleich die konkreten, auf Leben und Sein des gestorbenen Menschen bezogenen Sätze folgen würden. Die dann nie kamen. Um wen es eigentlich ging, wurde selten hörbar oder spürbar. Zu fühlen war eher ein Tod, der als Bestrafung für die Lebenden, also Anwesenden fungierte, um sie demütig und gottesfürchtig erschauern zu lassen. Das ist nicht meine Realität und ich bin sicher: Niemand wünscht sich den Abschied eines Menschen in dieser Form. Und dennoch ist er vielerorts noch Standard.
Dieser lieblose, unpersönliche Umgang mit Verstorbenen verstärkt den Wunsch, nicht an die erlebten Abschiede zu denken. Und dennoch lohnt es sich, zurück in die Vergangenheit zu schauen. Denn wenn wir sehen, wie wir mit den bisherigen Abschieden umgegangen sind, wissen wir eher, was wir in Zukunft beispielsweise für unsere Eltern anders erleben möchten. Und es hilft uns zu akzeptieren, dass wir alle irgendwann diese Erde verlassen werden.
Die Frage lautet: „Wen habe ich schon an den Tod verloren?“
Tauche ein in deine Erinnerungen: Wer aus deinem Leben ist bereits gestorben? Wie bist du mit ihrem/seinem Tod umgegangen? Konntest du trauern oder hast du den Verlust eher verdrängt? Wie sind die engsten Angehörigen mit ihrem Verlust zurechtgekommen? Wie oft wurde über den Menschen oder über seinen Tod gesprochen? Gibt es Abschiede, die du gerne nachholen möchtest, weil du nicht bei der Abschiedsfeier dabei sein konntest? Vielleicht möchtest du für dich alleine oder zusammen mit Weggefährt*innen aus der Zeit eine kleine Abschiedszeremonie am Grab oder zu Hause veranstalten. Ihr könntet den Menschen erneut betrachten, das Liebenswerte an ihm erinnern, eure Beziehung beschreiben und welche Bedeutung sie oder er damals für euch gehabt hat. Mit einem Foto und einer Kerze, Literatur und Musik, die ihr zusammen gelesen und gehört habt, schwimmst du zurück in die früheren Zeiten und fühlst noch mal deine Liebe und die Dankbarkeit, diesen Menschen gekannt zu haben.
Es könnte sein, dass sich bei den Antworten auf diese Fragen emotionale Tiefen in dir öffnen
– bitte beachte dann die Hilfsangebote am Ende des Textes.
Gibt es einen Todesfall, der immer wieder in deinem Kopf auftaucht, vor allem in der Nacht? Der dich verfolgt? Kannst du einordnen, weshalb er dich begleitet? Welche Verletzungen, welche Wut oder welche Ängste sind in dir lebendig, wenn du an diesen Menschen denkst? Würde es dir helfen, einen ausführlichen Brief zu schreiben mit allen Gefühlen, die da sind? Oder fiktiv mit der vertrauten Person zu sprechen, ihr alles an den Kopf zu werfen, was du zu Lebzeiten schon längst hättest sagen wollen? Aber damals dich nicht trautest? Wenn das als Versuch einer Heilung nicht genügt, zögere nicht, dir professionelle Hilfe zu holen und es in einem therapeutisch begleiteten und geschützten Rahmen nachzuholen.
Diese Blicke zurück lohnen sich auch für unsere Eltern, als Annäherung an ihre Wünsche an das eigene Ende – vielleicht kannst du diese Übung, nachdem du sie alleine durchlebt hast, gemeinsam mit deinen Eltern machen.
Ein Todesfall, der mich verfolgte
Als ich darüber nachdachte, wie viele Menschen ich bereits an den Tod verloren habe, war ich erstaunt, wie hoch die Zahl war und dass ich an viele Menschen kaum mehr gedacht hatte, da sie mir nicht so nah waren. Ein Todesfall aber verfolgte mich, seitdem ich 14 war. Ich beschreibe ihn, weil ich weiß, dass viele von uns nicht verarbeitete Verluste erleben mussten. So mag er als ein Beispiel dafür gelten, wie wir mit schockierenden Abschieden umgehen, wie wenig wir über derart Unfassbares damals gesprochen haben, wie alleine wir meist mit solch großer Trauer waren und wie sie uns unser Leben lang begleitet.
Der Unfalltod meiner gleich alten Freundin Antonia war mir immer präsent. Mit dem Fahrrad war sie im Mai 1980 auf dem Weg zu ihrem Freund Hubertus, der ihr einen Tag zuvor doch zum ersten Mal Pfannkuchen gebacken hatte! Sie fuhr auf der Straße. Dunkel war es bereits an den Ausläufern des Taunus, die sich zur großen Tiefebene nach Frankfurt öffnen. Der junge Mann in seinem Käfer hatte getrunken und sah sie nicht. Rammte ihr Fahrrad und sie flog mehrere Meter weit auf ein Feld, auf einen großen Stein zu, ihr Kopf schlug auf dem großen Stein auf. Tot. Sofort.
Während ich dies schreibe, zittert mein Körper und die Tränen der Wut, des Unverständnisses, der Trauer kommen. Wäre sie am Leben geblieben, wenn sie zehn Zentimeter neben diesem Stein auf der weichen, braunen Erde aufgekommen wäre? Wäre ihre Mutter da gewesen, hätte sie dann nachts fahren dürfen? Warum musste das schöne, begabte Mädchen mit 14 Jahren sterben? Die Mutter verkraftete den Verlust ihres einzigen Kindes nie und wurde verrückt. Fragen über Fragen quälten mich und ließen mich im Straßenverkehr immer besonders aufmerksam sein, und als meine Tochter mit ihrem kleinen Laufrad auch zur Verkehrsteilnehmerin wurde, hatte ich regelmäßig nachts Angst, lag wach und wälzte mich in Sorge um die Unversehrtheit ihres Körpers.
Reden ist Gold – wir können uns Hilfe holen
Während meiner Ausbildung zur Trauerrednerin wollte ich mich endlich von dieser Traumatisierung befreien und suchte die fantastische Therapeutin und Sterbeamme Champa Lanz in Hamburg auf. Sie half mir, binnen dreier Sitzungen diese Ängste von mir zu lösen. Seitdem schlafe ich besser und trage übrigens beim Fahrradfahren immer einen Helm. Einen Schutz, den es damals für Antonia noch nicht gab. Auch der Fahrradweg von Mammolshain nach Kronberg wurde erst nach ihrem Tod gebaut.
Im Gegensatz zum Beginn der 80er-Jahre, als Antonia starb, haben wir heute viele Möglichkeiten, uns bei aktuellen sowie bei ungeklärten, länger zurückliegenden Abschieden Hilfe zu holen. Wir können zu Therapeutinnen gehen oder zusammen mit Trauerbegleiterinnen unsere starken Gefühle betrachten, sie nachempfinden und auflösen – auch wenn der Verlust bereits vor Jahren geschah. Im Rahmen der bundesweiten Hospizbewegung gibt es inzwischen regional viele Angebote. Durch den Lockdown ist es meist möglich, telefonisch oder per Video-Konferenz eine Trauerbegleitung zu erfahren. Wenn ihr den Eindruck habt, ihr hängt in einer Trauer oder sehr starken Ängsten vor dem Tod fest – dann möchte ich euch wärmstens und dringend empfehlen, euch Hilfe zu holen und eure Seele zu erleichtern!
Bei Fragen oder Interesse, die Aufgaben gemeinsam in einer Gruppe zu machen, meldet euch gerne. Gyde Greta Cold, Trauerrednerin und Trauerbegleiterin in Ausbildung
www.trauerrede-cold.de
Gyde Greta Cold ist als Journalistin bereits ihrem Interesse für Menschen und ihrer Liebe zum Wort nachgegangen. Als Trauerrednerin vereint sie beides, indem sie Abschiedsfeiern verwirklicht und als Trauerbegleiterin Trost spendet.. Gydes Homepage
Wenn Du in seelischer Not bist und Hilfe brauchst, wende Dich bitte an eine der folgenden Adressen:
Bundesweit:
– Telefonseelsorge: 0800/1110111 oder 0800/1110222 www.telefonseelsorge.de
– Bundesweit tätige Trauerbegleitung findest Du hier:
www.bv-trauerbegleitung.de/angebote-fuer-trauern/hier-finden-sie-unsere-trauerbegleiterinnen/
– Deutschlandweites Info-Telefon Depression: 0800 33 44 5 33 (kostenfrei) www.deutsche-depressionshilfe.de
– Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS): Adressen von helfenden Einrichtungen, Ansprechpartner nach
– Bundesländern geordnet, Tagungen, Hintergrundinformationen zu Suizidalität www.suizidprophylaxe.de
In Hamburg:
– Ute Arndt, Trauerbegleiterin: www.ute-arndt.de Tel. 0173 / 255 355 1 mail@ute-arndt.de
– Inge Krause, Systemische Therapeutin und Trauerbegleiterin: www.inge-krause.de
Tel. 0157/77333552 info@inge-krause.de
– Lebens- und Sterbeammen Nadine Beyer und Heike Vetter: www.sterbeammen-netzwerk.de Tel. 04151/83 44 110 info@sterbeammen-netzwerk.de
– Trauergruppen, Beratung und Bildungsangebote im Hamburger Hospiz, www.hamburger-hospiz.de/mit-trauer-leben, Tel. 040/ 38 90 75-205, trauer@hamburger-hospiz.de
Foto: Lucy Joy/Unsplash