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Palais F*luxx

Online-Magazin für Rausch, Revolte, Wechseljahre

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Lasst uns übers Sterben reden!

Gyde Greta Cold weiß: Über Ängste und Trauer ins Gespräch zu kommen, macht nicht nur das Sterben leichter – sondern auch das Leben




Wir werden zur Mutter unserer Eltern

Es ist unausweichlich, die Tage werden kommen, an denen viele von uns, die wir über 47 sind, beobachten müssen, wie unsere Eltern oder die allein gebliebenen Elternteile sich langsam einem Alter oder einem Gesundheitszustand nähern, in dem ihr Sterben wahrscheinlicher wird. Wie gehen sie und wie gehen wir damit um? Wie ertragen wir, dass sie gebrechlicher werden, manches nicht mehr erledigen, ihre Gedanken nicht mehr ausrichten oder ihre Worte nicht mehr fokussieren können? Zu verstehen, was da passiert, ob es ein normaler Alterungsprozess oder Teil einer Erkrankung ist, ist anfänglich schwer zu erkennen. Wenn Menschen registrieren, dass sie nicht mehr in gewohntem Maße funktionieren, verunsichert sie das zutiefst. Sie können sich ja nicht mehr auf sich selbst verlassen. Das ist hart und lässt viele in ihrer Hilflosigkeit gereizt, ungnädig und nur noch abwehrend agieren. Diese Phasen des Übergangs sind die schwersten: zu sehen, wie Mutter oder Vater sich plötzlich anders verhalten und wie sich aufgrund ihrer Defizite, die sie nicht akzeptieren können, ihre Persönlichkeit verändert und oft ihre Stimmung negativ wird. Aus Scham und aus Wut über die eigene Unzulänglichkeit wehren sie – zunächst – jede Hilfe ab. Die Buddhisten sagen, dass das Annehmen von Hilfe eine der letzten großen Seelen-Übungen im Leben eines Menschen ist. Vielleicht kann die Generation unserer Eltern, die oft noch die Härten des Krieges und des Überlebens erlebt haben, es noch schlechter als wir. Und dann kommt in dieser Zeit zusätzlich die Angst vor dem Sterben und dem Tod hinzu. Wir können ihnen helfen, indem wir ihnen versichern, dass das alles normal ist und wir ihnen versprechen, an ihrer Seite und für sie da zu sein. Bis zuletzt.

Die Ambivalenz zwischen Fürsorge und Verantwortungsgefühl

Und wir als Kinder unserer Eltern? Wir sind erschrocken über diesen anders werdenden Menschen, dass Mutter oder Vater nicht mehr so agieren und reagieren, wie sie es doch sonst immer konnten. Wir wollen es nicht wahrhaben, brauchen Zeit dafür. Wir leiden unter dem Verlust ihres alten Seins, es schmerzt uns zu sehen, wie sie welken und wir werden gelegentlich auch wütend angesichts ihrer zunehmenden Unfähigkeit. Wir befinden uns in einer Ambivalenz zwischen Fürsorge, dem Gefühl der Verantwortung für Mutter oder für Vater oder gar für beide sorgen zu wollen, ihre Lebensführung aufrecht zu halten, ihren Haushalt leichter funktionieren zu lassen, ihnen die gesundheitliche Pflege zukommen zu lassen, die ihr Zustand verlangt. Bald aber sehen wir uns emotional und praktisch überfordert, denn es ist viel, viel zu viel. Plötzlich müssen wir unser Leben umkrempeln, unsere Bedürfnisse hinten anstellen und uns an die Bedürfnisse unserer Eltern anpassen, ihnen einen großen Teil in unserem Leben einräumen. Wir versorgen einen weiteren Haushalt und betreuen ein weiteres Kind. Und das, obgleich wir vielleicht Jahre lang ein eher distanziertes Verhältnis mit nur gelegentlichen Kontakten zu unseren Eltern gelebt haben. Und dennoch geben wir uns ihrer Versorgung hin. Wir schalten um auf eine Haltung der Hingabe, wir geben uns unserem Wunsch hin, ihnen ihr Leben noch so gut und schön wie möglich zu gestalten. Das tun wir aus Liebe und aus Dankbarkeit. Auch aus Mitgefühl heraus, denn wir ahnen, dass wir uns eines Tages in einem ähnlichem Zustand wiederfinden werden und fragen uns, wer sich dann wohl um uns kümmern wird.

Wir nehmen in Kauf, dass wir permanent im Standby-Modus laufen. Tagsüber wird im Hinterkopf als Schmalformat der Horrorfilm „Was kann alles passieren“ gespielt, in der Nacht sehen wir ihn auf großer Leinwand mit unseren Eltern als Stars in Nahaufnahmen und finden keinen Schlaf mehr. Kommt noch eine räumliche Distanz hinzu, zehrt die Fürsorge für unsere Eltern in höchstem Maße an unseren Kräften und Nerven, jedes Wochenende fahren wir hin und her, geben unser Privatleben daheim auf und sind nur noch als Superwoman mit stark pochendem Herzen unterwegs. Während der Woche haben wir ständig Angst, im schlimmsten Fall sofort wieder losfahren zu müssen, hin zu Mama, um ihr zu helfen, ihre Not zu lindern oder Papa nach einem Sturz aufzusammeln, ihn im Krankenhaus zu besuchen und seinen derzeitigen Gesundheitszustand in die Zukunft „hochzurechnen“ und die entsprechenden weiteren Schritte einzuleiten. Du liebe Güte, welch ein Dauerstress, welch eine Herzenslast, welch eine Belastung!

Der Blick auf das Sterben

Diese Last lässt sich nur dadurch mindern, dass wir ein Netz aus Hilfe organisieren, wir teilen uns idealerweise die Besuche und Aufgaben mit unseren Geschwistern oder anderen Verwandten. Wir beziehen Nachbarn und Freunde der Eltern vor Ort mit ein – wir erstellen Telefon-Listen mit den wichtigsten Menschen und Institutionen, besprechen einen Notfall-Plan, geben den Nachbarn Schlüssel zum Haus, packen die wichtigsten Unterlagen: Vollmacht, Patientenverfügung, Krankenkassenkarte, jetzt auch Impfausweis und Masken – erst nachdem wir Kopien von allem gemacht haben! – in eine Notfalltasche mit Utensilien für das Krankenhaus, auch Geld für Taxifahrten, und stellen sie sichtbar hin. Am allerbesten setzen wir uns mit unseren Eltern zusammen, wenn sie noch bei guter Gesundheit und wachem Kopf sind und versuchen, über das Thema Endlichkeit zu sprechen. Und klären die wichtigen praktischen Dinge, wir füllen all die Papiere aus, die uns im Notfall Handlungssicherheit geben: Vollmachten bei Banken, Vorsorgevollmachten sowie die Patientenverfügung, die den Grad medizinischer Lebenserhaltungsmaßnahmen am Lebensende festlegt. Und wir sprechen über die psychischen Aspekte, die der Blick auf ein Sterben betrifft – darüber werde ich im nächsten Text schreiben.

Auch wenn unser Verhältnis zu unseren Eltern angeschlagen, ramponiert ist – wir werden zur Stelle sein, wenn sie uns brauchen. Es ist für uns und für unsere Eltern die letzte Chance zu heilen, was zwischen uns kaputt gegangen war. Anzusprechen, wie und weshalb es  so verletzend war. Möglichst ohne große Vorwürfe, die entzweien. Verbindend sind die Fragen nach dem Warum, weshalb hast du damals so gehandelt? Vielleicht tragen wir die von ihnen zugefügten Wunden schon lange, spätestens jetzt wäre es an der Zeit zu verstehen, weshalb sie nicht anders konnten, welche Wunden sie wiederum erlitten und einfach an uns weitergegeben haben. Jetzt drehen sich die Machtverhältnisse um. Nicht mehr wir sind von ihnen abhängige Kinder, die unter ihrer Fuchtel stehen und vielleicht Angst vor ihnen haben. Sondern wir sehen, was ihre Lebensgeschichte und ihre Art der Verarbeitung mit ihnen gemacht hat und was jetzt ist. Wir lösen uns aus der Abhängigkeit, wenden sie um und helfen ihnen. Und lernen dabei,  was wir anders machen und erleben möchten.

Die Rundum-Versorgerin

Eine Studie ergab, dass Frauen zwischen 40 und 60 in Deutschland die Gesellschaftsgruppe sind, die am meisten unter Stress leidet – mehr als alle anderen, auch mehr als Manager von Großkonzernen. Eben noch Tochter, werden wir zur allumsorgenden, göttlichen Mutter und pflegen unsere verehrten Eltern am anderen Ende der Republik. Tragen dabei unsere geliebten Kinder und ihre fragwürdigen Schulrealitäten in unseren immer größer werdenden Handtaschen locker auf den Schultern. Während gleichzeitig die Wechseljahre unseren Körper durcheinanderwerfen und sich Schlafmangel einstellt. In der Folge wandelt sich gerne unsere Liebes-Beziehung durch die sich verändernde Sexualität. Ach ja, und ganz nebenbei gehen wir unserer Verpflichtung zur Arbeit nach und suchen beglückende Erfüllung im Beruf. Wahnsinn! Also bitte jetzt und täglich überbordenden Applaus und allerhöchste Hochachtung für jede Frau – für uns, die wir Liebe, Kraft, Wissen, Handeln und Weisheit verkörpern und als endlos wirbelnde, mehrarmige Göttinnen auf Erden wirken!

Bei Fragen melde Dich gerne: kontakt@trauerrede-cold.de


Gyde Greta Cold ist als Journalistin bereits ihrem Interesse für Menschen und ihrer Liebe zum Wort nachgegangen. Als Trauerrednerin vereint sie beides, indem sie Abschiedsfeiern verwirklicht und als Trauerbegleiterin Trost spendet.. Gydes Homepage

Wenn Du in seelischer Not bist und Hilfe brauchst, wende Dich bitte an eine der folgenden Adressen:

Bundesweit:

Telefonseelsorge:  (0800) 1110111 oder  (0800) 1110222, telefonseelsorge.de
Bundesweit tätige Trauerbegleitung findest Du hier: bv-trauerbegleitung.de/angebote-fuer-trauern/hier-finden-sie-unsere-trauerbegleiterinnen

Deutschlandweites Info-Telefon Depression: (0800) 33 44 5 33 (kostenfrei) deutsche-depressionshilfe.de
Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS): Adressen von helfenden Einrichtungen, Ansprechpartner nach Bundesländern geordnet, Tagungen, Hintergrundinformationen zu Suizidalität suizidprophylaxe.de

Kompetenznetzwerk zur Begleitung von Krise, Tod und Trauer in Zeiten von Corona
Kontact2020 der  Trauerbegleiterin Chris Paul  chrispaul.de/kontact2020 
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Foto: Lucy Joy/Unsplash

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