Was möchte ich tun, wenn ich nur noch ein Jahr zu leben hätte?
Wenn unsere Angst vor dem Sterben sehr groß und immer wieder präsent ist, quält uns meist das Gefühl, unser eigentliches Leben verpasst oder das Ersehnte noch nicht erlebt zu haben. Dann ist es Zeit, sich zu fragen: Was fehlt mir? Was möchte ich erreichen? Wie komme ich dahin, es umsetzen zu können? Ist es wirklich mein Wunsch oder folge ich der Idee anderer? Weshalb hat es bisher nicht funktioniert? Wie kann ich die ersten Schritte auf mein Ziel hin gehen? Was müsste ich verändern, damit sich die Chancen erhöhen? Wo kann ich mir Hilfe und Unterstützung holen, um vorwärtszukommen? Machen wir uns auf den Weg, uns selbst im Glück zu begegnen.
Konkreter wird die Angst, die uns manchmal nachts, wenn wir keinen Schlaf finden, durchs übermüdete Hirn spukt. Eine der schlimmsten Vorstellungen, die uns oder von uns geliebte Menschen betrifft: Wir bekommen eine Diagnose, die unsere Lebenszeit schlagartig auf nur noch ein weiteres Jahr begrenzt. Es ist sinnvoll, sich dieser Angst zu stellen, der Bedrohung direkt ins Auge zu sehen, damit wir reagieren können. Genau hinzuschauen, was wir fürchten, was unausweichlich sein würde, wo wir Abläufe selbst in die Hand nehmen und regeln können oder wo wir uns ergeben müssen.
Nur noch ein Jahr – was würden wir wollen und was würden wir tun?
Es lohnt sich, diese Frage ernsthaft zu betrachten, denn die Antworten können uns entweder einen neuen Kurs für die Jetztzeit geben. Oder uns beruhigen. Denn die meisten Menschen stellen fest, dass sie ihr Leben eigentlich genau so weiterleben möchten wie bisher. Und wir?
Nehmen wir uns Zeit und Ruhe, fühlen uns ein und schreiben unsere Gedanken auf. Wenn ich krank wäre, womit würde ich aufhören wollen? Kann ich mir vorstellen und es mir finanziell leisten, weniger oder gar nicht mehr zu arbeiten, auch wenn ich nicht krankgeschrieben bin? Welche Menschen möchte ich um mich haben und mit ihnen besprechen, dass sie sich um mich kümmern, wenn ich sie brauche? Von welchen Menschen möchte ich mich eher verabschieden, weil sie mir nicht wirklich guttun? Manchmal zeigt sich das gerade nach einer Diagnose, denn manche Freund*innen können aus Angst gar nicht damit umgehen, sie beschönigen die Krankheitsaussichten und reden sie klein, während andere Freund*innen sich dem Thema und ihren sowie meinen Gefühlen stellen können. Und zu einer wirklichen Begleitung und treuen Hilfe werden.
Den „Schreibtisch des Lebens“ aufräumen – nicht nur wenn der Tod vor der Tür steht
Schreiben wir Schritt für Schritt auf, gucken von Monat zu Monat, was wird, wenn die Krankheit fortschreitet und die Kräfte schwinden – was bekommt dann Bedeutung, wenn wir vieles Gewohnte nicht mehr tun können?
Womit möchte ich meine Zeit verbringen? Was hilft mir in meiner Verwirrtheit? Endlich wieder malen und meine inneren Kämpfe und Gefühle in Farben oder in schwarz-weiß ausdrücken? So oft schwimmen gehen wie möglich? Spaziergänge in der Natur machen, in ihr aufgehen, eins mit ihr werden, mich selbst vergessen können?
Vielleicht würde eine ersehnte reale Reise unser Leben intensiv versüßen, während wir uns parallel innerlich auf unsere letzte Reise in das unbekannte Land jenseits vorbereiten. Es gibt einiges zu erledigen im Außen und im Inneren an geistiger und emotionaler Entwicklung. Da ist allerhand möglich. Zahlreiche Literatur bietet sich an, eine innere Reinigung des Bewusstseins zu durchschreiten. Aber oft wird gar nicht so viel gewollt. Sicher ist: Es lässt sich leichter gehen mit leichtem Gepäck.
In dem Film „In Liebe lassen“ von Emmanuelle Bercot geht es genau um dieses leichtere Gehen. Es ist ein fantastischer Film, der so real schildert, was am Lebensende passiert und dadurch sehr ergreift und zum Weinen einlädt. Benjamin ist 39 und lernt zu akzeptieren, dass er an seinem Bauchspeicheldrüsenkrebs sterben wird. Der ihn betreuende Onkologe Gabriel A. Sara spielt sich selbst und fordert seinen Patienten wunderbar klar und auf zärtliche Art humanistisch auf, den Schreibtisch seines Lebens aufzuräumen. Was Benjamin dann widerwillig tut.
Räumen wir den Schreibtisch unseres Lebens auf! Das wäre die Botschaft für das letzte Lebensjahr. Machen wir uns bewusst, was gewesen ist und was kommen wird. Was gibt es mit wem warum zu klären? Was benötigt meine Seele, um heil zu sein? Welche Menschen möchte ich wiedersehen, um mit ihnen ins Reine zu kommen? Wo nagen Schuldgefühle in mir? Was möchte ich erledigen? Worüber bin ich dankbar? Was war wirklich toll in meinem Leben und erfüllte mich? Was weniger? Was möchte ich meinen Weggefährt*innen weitergeben an Materiellem und an Ideellem?
Das Wesentliche aber wäre, so viel Zeit wie möglich mit den Menschen zu verbringen, die ich liebe. Wie wollen wir miteinander sein?
Mich hat es sehr beruhigt, festzustellen, dass ich gar nicht so viel anders leben möchte, wenn es nur noch ein Jahr wäre. Schön könnte es sein, Monate im Warmen verbringen zu dürfen, auf einer griechischen Insel, das blaue Mittelmeer im Blick – aber was soll ich dort auf Dauer alleine, wenn meine liebsten Menschen gar nicht da sein können? Oder hätte ich noch ausreichend Kraft, um einen Segeltörn im Ägäischen Meer genießen zu können?
Und weil ich schon so in diese Vorstellungen eingetaucht war, habe ich weiter geschrieben und notiert, wie ich meine letzten Tage und Stunden verbringen möchte und wie anschließend meine Abschiedsfeier gestaltet sein sollte. Es ist erstaunlich schön, sich das alles vorzustellen, denn je konkreter ich es jetzt aufschreibe und an meine Liebsten zur Verwahrung weiterreiche, umso sicherer kann ich sein, dass meine Familie und Freund*innen es genauso, wie ich es mir wünsche, umsetzen werden.
Stephen und Ondrea Levine entwickelten eine Philosophie, dernach wir höchste Erfüllung finden können, wenn wir jedes Jahr so leben, als wäre es unser letztes. Aus vollen Zügen und in voller Gewissheit dessen, was uns wichtig ist. Worauf es in unserem Leben wirklich ankommen soll. Das schließt die Vorstellung in Kopf und Herz mit ein, wie, in welchem Zustand des Bewusstseins wir eines Tages an unserem Lebensende ankommen möchten.
Bei Fragen oder Interesse, etwa diese Aufgaben gemeinsam in einer Gruppe zu machen, meldet Euch gerne bei Gyde Greta Cold, Trauerrednerin und Trauerbegleiterin www.trauerrede-cold.de
Gyde Greta Cold ist als Journalistin bereits ihrem Interesse für Menschen und ihrer Liebe zum Wort nachgegangen. Als Trauerrednerin vereint sie beides, indem sie Abschiedsfeiern verwirklicht und als Trauerbegleiterin Trost spendet. Gydes Homepage
Literatur:
Sterben können, Lisa Freund, Knaur MenSana
Noch ein Jahr zu leben + Who dies – Wege durch den Tod, Stephen Levine
Wenn Du in seelischer Not bist und Hilfe brauchst, wende Dich bitte an eine der folgenden Adressen:
Bundesweit:
Telefonseelsorge: (0800) 1110111 oder (0800) 1110222, telefonseelsorge.de
Bundesweit tätige Trauerbegleitung findest Du hier: bv-trauerbegleitung.de/angebote-fuer-trauern/hier-finden-sie-unsere-trauerbegleiterinnen
Deutschlandweites Info-Telefon Depression: (0800) 33 44 5 33 (kostenfrei) deutsche-depressionshilfe.de
Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS): Adressen von helfenden Einrichtungen, Ansprechpartner nach Bundesländern geordnet, Tagungen, Hintergrundinformationen zu Suizidalität suizidprophylaxe.de
Kompetenznetzwerk zur Begleitung von Krise, Tod und Trauer in Zeiten von Corona
Kontact2020 der Trauerbegleiterin Chris Paul chrispaul.de/kontact2020
Internetseelsorge.de ist ein Portal zu katholischen Seelsorgeangeboten im Internet internetseelsorge.de