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Palais F*luxx

Online-Magazin für Rausch, Revolte, Wechseljahre

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Jugend auf Rädern

Als man noch unbeschwert reisen konnte, stand Silke Burmester vor der Frage: Wie bekommt man den 16-jährigen Sohn dazu, mit einem in den Urlaub zu fahren? Die Antwort: Indem man mit einem Bulli durch Cornwall cruised. Die Medien, mit denen der Nachwuchs die Zeit verdaddelt, mögen sich seither geändert haben – die Kids haben es nicht

Die Ferne macht´s möglich: Nähe


Uno ist weg. Ich kann das Spiel nicht finden. »Was willst’n damit?« fragt der Sohn und stopft American Psycho in seinen Rucksack. Der Roman über einen Serienkiller stand jahrelang auf dem Index der jugendgefährdenden Schriften. »Spielen« sage ich, »wir müssen da doch irgendwas machen.«

Mein Sohn, den ich für diese Geschichte Ben nennen möchte, hatte einen weichen Moment, als er sagte: »Ich komm mit.« Eigentlich sollte, wenn man schon mit den Eltern in den Urlaub fährt, am Meer ein Dicke-Hose-Hotel stehen, mit einem Pool, damit man nicht an den Strand muss und einem Rund-um-die-Uhr-Futter-Service, um den jugendlichen Wachstumshunger um 14 Uhr, nach dem Aufstehen, befriedigen zu können. Ansonsten wird es vorgezogen, mit den Kumpels in ein Wochenendhaus am Plöner See zu fahren, um Hangover nachzustellen.

Unser Hotel ist ein himmelblauer VW-Bus aus dem Jahr 1973, mit drei Schlafplätzen und zwei Gasflammen zum Kochen. Cornwall ist im Sommer gespickt mit den in leuchtenden Farben lackierten Bullis. Das Freiheitsvehikel der Hippiegeneration hat es in die Gegenwart geschafft, man muss sich früh anmelden, will man einen Camper Van ergattern. Jetzt vor den Sommerferien ist die Lage noch entspannt.

Der Freund in Hamburg findet den Bus „geil“. Ich bin gerettet

Meine Freundin Eva kommt auch mit. Sie kann zwar das Uno-Spiel nicht ersetzen, aber ab und zu mal den Bus fahren, denke ich, schließlich können Strecken auch in Englands südlichem Endstück lang werden. Ich habe einen Vermieter in Newquay gewählt, der Ort liegt in der Mitte der oberen Küstenlinie und er hat einen Flughafen, was die Anreise vereinfacht. Fünf Tage wollen wir mit dem alten VW-Bus die Küste Richtung Lizard abfahren, auf Campingplätzen übernachten und das vielbesungene Glück der Unabhängigkeit einfangen. Als Ben den Bus sieht, sagt er: »Geil!«, zückt sein Telefon, schießt ein Foto und schickt es 1300 Kilometer gen Osten. Eine Minute später ist die Replik da. Sein Freund in Hamburg findet den Wagen auch geil. Ich bin gerettet.

Ich blicke in den VW-Himmel und weiß augenblicklich, wie es war, in den 70ern Kind gewesen zu sein. Wir hatten einen VW-Typ 3 und ich saß auf der Rückbank. Bei uns war der Himmel gelb, nicht weiß. Das kam vom Nikotin. Die Eltern hielten die Fenster geschlossen, damit es seine Arbeit gut verrichten konnte. Wir hatten einen VW nach dem anderen. Also verbrachte ich Jahre unter Autodächern, die mit einem elastischen Kunststoff ausgeschlagen und von feinen Löchern durchzogen waren, als hätte jemand unablässig mit einer Nadel hineingestochen. Der VW-Bus bringt dieses vergessene Leben augenblicklich zurück. Auch der Schlüssel, ein plattes Ding mit einer einseitigen Ausformung und die silbern anmutende, geriffelte Türschließe wirken wie eine Erinnerungstablette. So war Autofahren. So war Kindheit.

Die Kindheit meines Sohnes ist vorbei. Ben ist jetzt 16 Jahre alt und es kommt nicht mehr häufig vor, dass wir Dinge zusammen tun. Cornwall ist mit Sicherheit nicht das, was Jugendliche sich unter einem coolen Ort vorstellen. Cornwall ist tatsächlich so schön, wie die Schmonzetten von Rosamunde Pilcher den Leserinnen erzählen: wild und romantisch, pittoresk und geheimnisvoll. Ich habe Ben mit der Aussicht auf die Surfstrände hierher gelockt. Mit dem Versprechen auf Palmen und auf die beste Burger-Bude der Welt. Er hat sich darauf eingelassen und ich fühle mich verpflichtet, ein gutes Programm zu liefern. Dass er ohne Gemecker seinen Computer zuhause lässt, bringt mich umso mehr in die Pflicht.

Wie zuhause: Sitzen und gucken, während andere die Arbeit machen

Eva steuert das alte, ungewohnte Gefährt souverän Richtung Watergatebay, dem vielleicht schönsten Surferstrand von Newquay. Eine riesige, weite Bucht auf deren Klippen Jamie Oliver sein Restaurant Fifteen betreibt. Ein Ausbildungsprojekt für Jugendliche mit einem schwierigen Lebenslauf. Dort zu sitzen, bei phantasiereichen, leckeren Speisen und die Surfer zu beobachten, ist eines der Highlights, hier in Englands Süden. Doch die Jugend ist cool. Jamie Oliver geht ihr am Geschmacksnerv vorbei, sie will lieber runter zum Strand und einen Neoprenanzug und ein Bodyboard ausleihen. Oder lieber doch nicht, schließlich kann man in einem VW-Bus nicht heiß duschen. Mein Alles-richtig-mach-Druck wächst. Sich in die Wellen zu werfen, hatte ich als tolle Sache vorgesehen. Wenn Ben das jetzt nicht will, heißt es bald, Cornwall wäre langweilig. Aber für den Augenblick scheint es zu reichen, über die enorme Weite der Bucht zu marschieren, hin zum Meer, das dank der Ebbe hunderte Meter entfernt ist, um mich herum zu hüpfen und zu versuchen, mich in die Pfützen zu drängen. Und während die Sonne scheint und der Wind pfeift und es schöner nicht sein könnte, frage ich mich, warum man mit seinem Kind so weit fahren muss, damit es einmal das beknackte Facebook vergisst und die Blödelfilme auf Youtube und versucht, seine Mutter in die Pfützen zu schubsen.

Es gibt eine einzige Steckdose. Das Handy des Sohnes hängt immer schon dran

Der Bus ist verdammt eng. Bei maximalen 1,5 Quadratmetern freier Fläche muss man sich gut abstimmen. Absprechen, wer wann wo seine Tasche rausholt, wer sich wo hinzusetzen gedenkt. Wenn wir das Faltdach des VWs ausklappen, so dass Ben Platz zum Schlafen hat, kann man endlich stehen. Erstaunlicherweise meckert der Sohn über die beengten Verhältnisse nicht. Im Gegenteil: Er findet das gemütlich. Allerdings ist Ben sicherlich so erleichtert wie ich, dass ich mit meiner Freundin das Bett teilen werde, und nicht mit ihm. Eva und ich schlafen auf der ausgeklappten Sitzbank. Man möchte die Beine anwinkeln, damit die Füße nicht im Freien hängen, aber da ist schon der andere Körper, so schmal ist es. Ein sensibler Punkt ist die Steckdose. Eine einzige gibt es und die spendet nur Energie, wenn der Wagen auf dem Campingplatz am Strom hängt. Was immer man anzuschließen gedenkt, das Telefon, am Abend den Heizer, das Handy des Sohns hängt schon dran und das geht vor. Es scheint das Privileg der Jugend zu sein, dass ihr Telefon wichtiger ist als alles andere.

Cornwall ist reich an Campingplätzen. Überall stehen Hinweisschilder am Straßenrand. Die Betreiber sind erfreulich umkompliziert, W-Lan gehört so selbstverständlich zum Angebot wie eine große, gut gepflegte Sanitäranlage. Jetzt im Frühjahr sind die Plätze nur mäßig gefüllt, wir fahren einfach drauf los und schauen, wo es uns gefällt. Beziehungsweise Eva fährt. Ich nur kurz, dann gebe ich entnervt auf. Es macht mir nichts aus, wenn ein Wagen schwergängig ist, wenn er keine Servolenkung hat und man dran denken muss, den Blinker wieder abzuschalten. Wenn aber die Bremse ewig braucht, um zu greifen, und die Gänge nicht reingehen und der Versuch, sie reinzubekommen, sich anfühlt, als würde man mit einem 60 Zentimeter langen Stock in Porridge rühren, wie die Busvermieterin es beschreibt, und man gleichzeitig links herum in den Kreisverkehr fahren will, dann bringt mich das an die Grenzen meiner Duldsamkeit. Ich möchte dann schreien.

Die Engländer bleiben erstaunlich ruhig. Meile um Meile kurven wir mit unserem blauen Bus durch die Landschaft und kommen an den unmöglichsten Stellen nicht vom Fleck. Etwa am Berg, wenn in den zweiten Gang runtergeschaltet werden muss und der nicht zu finden ist, und man mitten auf der Steigung stehen bleibt, um in seiner Haferbreischüssel den Gang zu suchen. Wenn man die enge Straße blockiert, weil man mit dem 40 Jahre alten Ding Minuten braucht, um zu wenden oder wenn der Motor beim Anfahren im Kreisverkehr einfach ausgeht. Fünf Tage lang sind wir eine verkehrstechnische Pest, und nicht einer hupt. Dafür muss man die Engländer lieben.

Eine Reise in die Zeit als die Mutter 14 war: Henry’s Campsite in Lizard

Unsere Fahrt ist ein unablässiges Auf und Ab durch eine sattgrüne, hügelige Landschaft voll blühender Bäume. Straßen, kaum breiter als ein Auto, winden sich durch dichtes Gebüsch, dessen Knospen dabei sind, sich zu öffnen. Dann wieder leuchtet das Meer blau am Küstenrand. Wir stoppen in St. Ives, dem vielleicht schönsten Fischerort, wo die Londoner Tate Gallery nicht nur eine Dependance direkt am Strand hat, sondern das Lokal Blas die weltbesten Burger serviert, wie nun auch der Sohn bestätigen kann. Auf Bens Wunsch fahren wir, weil es so schön klingt, nach Land ›s End und verlassen den zum Touristen-Nepp-Point ausgebauten, westlichsten Ort des Königreichs fluchtartig. Etwas weiter südlich, in Porthcurno wird deutlich, was damit gemeint sein könnte, wenn es heißt, die Cornish People seien eigenwillig und dickköpfig: Hier hat von 1930 an Rowena Cade zusammen mit zwei Gärtnern ein Amphitheater in den Klippen erschaffen. Gegen alle Widerstände. Die der Natur und die der Gesellschaft. Und das Beste: Überall in Cornwall wird Cream Tea serviert, selbst auf dem Anwesen des Klosters des St. Michael ›s Mount gibt es Scones mit Clotted Cream und Erdbeermarmelade. Kommt uns auf unserer Tour ab und zu ein anderer Camper Van entgegen, hupen wir, und sogar die alten VW-Käfer blenden auf, wenn man sie trifft.

Eine Zeitreise in meine Jugend

Diese Solidarität macht es leicht, um Hilfe zu bitten, als wir in Lizard nicht vom Campingplatz fahren können, weil uns der Zylinder samt Zündschloss entgegenkommt, wenn man versucht, den Wagen zu starten. Die Bulli-Vermieterin hatte uns den Platz empfohlen. Ein alter Hippie betreibe ihn, und der sei einen Besuch wert, sagte sie. Also biegen wir bei Helston rechts ab und fahren Dank einer Sperrung über zu beiden Seiten dicht bewachsene Feldwege ans Ende der Welt, wie es scheint. Dort, wo zumindest England in Richtung Süden zu Ende ist, finden wir Henry´s Campsite und noch einmal ist es, als wäre ich in meiner Vergangenheit gelandet. Dieses Mal bin ich 14. Es ist Anfang der 80er Jahre, ich bin auf dem Land, und jemand hat aus dem, was er so finden konnte, Buden aufgebaut. Er hat Traktorensitze zu Sitzgruppen angeordnet und Baumstämme zu Hockern umfunktioniert. Behelfsmäßig hat er drei Toilettenschüsseln mit improvisierten Wänden abgetrennt und eine Dusche aufgestellt, in die man ein 20-Pence-Stück werfen muss, damit für zwei Minuten warmes Wasser kommt. Draußen, vor der Baracke ist das Waschbecken. Es ist winzig. Darüber lacht die Sonne, die auf den Holzverschlag gemalt ist, an anderer Stelle geht sie unter. Haben wir auf einem der schicken Plätze 18 Pfund für die Übernachtung gezahlt, zahlen wir hier 30. Während Eva und ich in uns hineinhorchen und die Grenzen unserer Hippieliebe in unserem Inneren spüren, bewegt Ben sich, als sei er auf einem fremden Planeten gelandet. Ich begreife, dass ihm etwas nicht klar ist: »So sah es überall aus, als ich 14 war«, sage ich. »Das war damals so.« Er schaut mich an und ich sehe, wie er versucht, zwei Dinge zusammenzubringen, die für ihn so weit auseinander liegen wie ich und der Erste Weltkrieg.

Eine Nacht in Henry’s-Hippie-Abzocke reicht, wir würden gern fahren, aber das geht schlecht, wenn man das Zündschloss quasi in den Händen hält. Also blicken wir uns um und entdecken einen VW-Bus, der aussieht, als sei er durch die Galaxie gerauscht. Eine kleine, völlig abgerockte Blechbüchse ohne Lack oder sonst einem Schutz auf dem mitgenommenen Blech wurde auf Henry’s Campsite abgestellt. Es ist der Wagen von Elisabeth und Colin. Ein Bus von 1963, mit dem sie fast jedes Wochenende herkommen. Innen ist er mit einer psychedelischen Schwarz-Weiß-Tapete ausgeschlagen, im Motorraum blitzt ein blankes Trumm, das aus einem Porschemotor und VW-Teilen zusammengesetzt wurde. Natürlich weiß Colin, was zu tun ist, und als wir nach einer ewig langen Plauderei davonfahren, haben wir ihre Kontaktdaten, denn das nächste Mal, wenn wir kommen, sollen wir mit ihnen Campen gehen.

Burmester 47 und 16 Jahre alt – und ungewohnt harmonisch

Meine Befürchtung, dass Cornwall jugendlichen Ansprüchen nicht genügen könnte, erweist sich als unbegründet. Ben erwartet gar kein großes Programm, ihm reicht tatsächlich, was diese Fahrt bietet: eine ständig wechselnde Umgebung, ein cooles Auto, bei dem man bald durch das runtergekurbelte Fenster von innen den äußeren Türgriff greifen muss, möchte man als Beifahrer aussteigen. Ihm genügt es, die ungewöhnlichen Orte zu sehen, sich durch das Süßigkeiten- und Sandwichangebot zu futtern und auf Engländer zu treffen, die in diesem Landstrich oft ziemlich schräg sind und gern viel reden. Es ist ein Leichtes, mit ihnen in Kontakt zu kommen. Mit Sean etwa, der heute die besten Küchen des Landes mit winzigen, essbaren Pflanzen beliefert, früher bei den Moonflowers gespielt hat. Einer Band, die ihr Abschiedskonzert auf einem Festival vor 70 000 Leuten gab und deren Mitglieder aus diesem Anlass nackt auftraten.

Mich überrascht vor allem, wie gut mein Sohn Englisch spricht. Seit zehn Jahren lernt er die Sprache im Unterricht, aber noch nie habe ich ihn reden hören. Es gibt mir den Glauben an die Schule und die viel gescholtene Jugend zurück, wenn ich mitbekomme, wie wortgewandt er sich unterhält. Und trotzdem gibt es Anlässe, genervt zu sein. Etwa, wenn wir durch sagenumwobene Piratendörfer fahren, und ich förmlich in meinem Nacken spüre, dass er in seinem Psycho-Killer-Buch liest, anstatt rauszugucken und ich, obwohl ich weiß, dass das blöd ist, sage: »Guck doch mal raus!« Und wenn ich mich umdrehe, um zu sehen, ob er guckt, und feststelle, dass er nicht nur liest, sondern mich mit seinen Kopfhörern auch nicht hört.

In meiner Vorstellung fliegt mein Haar im Wind und ich habe keine Angst vor dem Morgen

Aber das sind Kleinigkeiten, insgesamt gibt es nicht viel zu meckern. Nicht am Sohn, nicht an Cornwall. Trotzdem bin ich enttäuscht. Ich hatte mir etwas anders vorgestellt. Ich hatte mir mich anders vorgestellt. Ich blicke auf Eva am Steuer, wie sie begeistert den alten Kasten durch die Landschaft lenkt und werde mir des Wunsches bewusst, auch so souverän am Lenkrad zu sitzen, während die Sonne scheint und das Haar im Wind weht. In meiner Vorstellung ist alles leicht. Der Sommer ist da, wir haben diesen coolen Bus, neben mir sitzt mein reizender Junge, aus den Lautsprechern tönt eine englische 60er-Jahre Band, wir fahren von Strand zu Strand und ich bin noch einmal in einem Stadium, in dem man das Gefühl hat, das eigene Leben ist das Beste von allen, weil man keine Angst vor dem Morgen hat, sondern das Jetzt einen erfüllt mit seiner Leichtigkeit und seinen Farben.

Stattdessen scheitere ich an diesem beknackten alten Schrottbus, der von Tag zu Tag mehr Funktionen aufgibt und mich mit seiner Porridgeschaltung in den Wahnsinn treibt.

Und doch ist es am Ende eine der schönsten Reisen, weil diese Tour mit dem Bus in meinem Sohn eine Seite hervorbringt, die ich selten zu sehen bekomme. Die eines Heranwachsenden, der in den Ferien ohne Genörgel vor neun Uhr aufsteht, der in einem Buch liest statt im Internet, und der es tagelang mit zwei Frauen auf engstem Raum aushält, ohne anstrengend zu werden. Und der, wenn seine Mutter mit der blöden Karre beim Anstieg am Berg stehenbleibt und geneigt ist, einen Nervenzusammenbruch zu bekommen, sagt: »Du schaffst das, Mama!«, und das tatsächlich glaubt.

Der Text ist 2013 entstanden und in „Die Zeit“ erschienen.

Fotos: Eva Häberle

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