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Palais F*luxx

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I am what I am because of…this book

Anne Kuhlmeyer über »Der Meister und Margarita« von Michail Bulgakow


Ach, verdammt … Man muss das selber lesen! Es sind echt schräge Leute drin, meint Anne Kuhlmeyer.
Bildmontage: Brigitta Jahn


Meister und Margarita – eine Allgeschichte

 „Was für ein Unfug“, dachte ich, also mit 17, „und noch von einem alten Russen.“ Und „typisch“, dachte ich auch. Ich las »Der Meister und Margarita« von Machail Bulgakow in der Schule, weil ich musste und mit der Skepsis derer, die das Von-oben-Verordnete ablehnten. Schließlich war der Russischunterricht mit Irina und Boris, den intellektuell überfliegenden Sportskanonen, die ihrem Vaterland ergeben waren, wie die Leibeigenen in Oblomows Welt ihrem Zaren, Zumutung genug. Einige Anläufe brauchte ich, um in den Roman hineinzufinden. Nein, ich legte ihn nicht zur Seite und riskierte eine schlechte Note. Neben der Skeptikerin wohnte eine hoch angepasste Brave in mir, der ich letztlich dankbar bin, dass sie auf der Lektüre bestand. Von heute aus gesehen, begriff ich wenig von dem Text. Tatsächlich war es nicht das Erzählte selbst, was mich berührte, vielmehr die darunter liegende Schicht aus Menschlichkeit, aus Liebe zum anderen, zum Unangepassten, zum Fremden. Fühlte ich mich doch selbst nicht zugehörig und, der Lebensphase geschuldet, auf der Suche nach Zugehörigkeit. Der Roman legte den Samen einer Idee in mein junges Hirn, nämlich die Frage, wie viel ich für Zugehörigkeit ausgeben, bezahlen wollen würde. Damals dachte ich, es wäre super, 60 Jahre alt zu sein, damit ich diese Frage und viele andere von der Backe hätte. Heute, mit knapp 60, kann ich nur sagen: An dem Gedanken war was dran.

Die Zeit vergeht

Vor einigen Jahren fiel mir »Der Meister und Margarita« wieder in die Hände, als eBook. Vielleicht brauchte es Zeit, denn inzwischen verstand ich mehr von Texten und auch, dass Genuss und Erkenntnis von solidem Basiswissen profitieren. Ich las das Buch im Nachdenken über einen neuen eigenen Roman. Erst da offenbarte es seinen Glanz. Ich begriff, dass die Lektüre von »Der Meister und Margarita« in der Schule als Akt der Subversion verstanden werden konnte, und fragte mich, wer, zur Hölle, auf die gute Idee gekommen war.

Bulgakow arbeitete von 1928 bis 1940 an »Der Meister und Margarita« und diktierte seiner Frau Jelena zuletzt die Sätze in die Hand, bevor er, noch nicht 50-jährig, starb. Erst 1966 wurde der Roman öffentlich, wenngleich nicht unzensiert. Zu bedrohlich seine Komik für das Regime. Mick Jagger komponierte nach Bulgakows Lektüre Sympathy for the devil. Schon allein das hätte eine Kontraindikation für Schullektüre sein müssen, wenn einer von den Betonschädeln begriffen hätte, was an Sprengstoff in dem Roman steckt. Ein diktatorisches System beargwöhnt zu Recht das Komische.

Das Komische trickst

An den Bruchkanten der Geschichte wuchert die Groteske. Bulgakows »Der Meister und Margarita« ist so ein fantastisches Stück Literatur. Das Werk ist nicht nur eine üppig ausgestattete Satire auf das Zeitgeschehen in der jungen Sowjetunion, deren Bürokraten längst die kommunistischen Ideale verraten hatten und im öffentlichen Leben wie in der Literatur hegemonial agierten, als sei der zaristischen Gesellschaft ein proletarisches Banner übergeworfen worden, nachdem Nikolai II. es nicht in die Moderne geschafft hatte, sondern es verflicht Geschichte, Religion, Ideologie und conditio humana (lat. für „alles Menschliche“) zu einem opulenten Sittenbild im Moskau der 1920er-Jahre. Voland, seines Zeichens Teufel mit eingeschränkten Optionen, und sein Kater Behemoth führen uns durch drei Handlungsstränge. Während die Moskauer Gegenwart, in der der Poet Iwan Besdomny (übersetzt: Hans Hauslos) in die Psychiatrie gerät und sein Redakteur (wörtlich) den Kopf verliert, nur so schillert von Absurditäten, wird die Geschichte von Jesus, dem naiven Urkommunisten, und Pilatus, dem depressiven Großinquisitor, in realistischer Manier erzählt. Klammer und Kondensationspunkt ist Voland mit seinem Gefolge in der legendären Wohnung No. 50. Neben dem Meister und der fliegenden Margarita (man muss an Lilith denken) ist Voland vielleicht die menschlichste Figur in Bulgakows Kosmos. Ach, verdammt … Man muss das selber lesen! Es sind echt schräge Leute drin.

Für Zugehörigkeit und Anpassung habe ich über die Jahre mit Lebenszeit und Selbstachtung bezahlt, bis ich begriff, dass man ziemlich komisch und trotzdem okay sein kann. »Der Meister und Margarita« half mir zu verstehen, wie fundamental menschlich mein Fremdsein und das der anderen ist. Ich konnte mit Margaritas Flügeln endlich ins Freie und sehen – WIR SIND (bestenfalls komisch). Hauptsache! Der Rest wird schon.

Der Meister und Margarita, Volk und Welt, Berlin 1979, übers.: Thomas Reschke, 500 Seiten


Anne Kuhlmeyer, 59, arbeitet als Psychotherapeutin, Ärztin und Schriftstellerin im Münsterland.


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