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Palais F*luxx

Online-Magazin für Rausch, Revolte, Wechseljahre

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Ein Mann namens Martin | 2

Vor ein paar Jahren hatte der Großschriftsteller Martin Walser sein Reisetagebuch im Zug liegen lassen. Silke Burmester hatte es in Gedanken gefunden. Wir veröffentlichen Auszüge aus dem Weltbetrachtungskonglomerat des schusseligen Literaten.

Eben noch der Held der Buchhändlerinnen, im nächsten Moment Käpt’n Iglo

Juni, daheim
Habe schon wieder Ärger mit Steinfeld, diesem Hornochsen von der Süddeutschen. Habe ihm eine Eloge auf die Ästhetik des Beachvolleyballs verfasst, und er druckt sie nicht. Sie liegt nun schon seit vierzehn Tagen auf seinem Tisch. Er meint, das könne man so nicht machen, das sei kein Text fürs Feuilleton, weil die Körper im Mittelpunkt stünden, nicht die Kunst. Da sieht man das Verquere in den Hohlköpfen, die heutzutage die Feuilletons bevölkern und „Kunst“ und „Körper“ trennen!
Ich habe sie doch vor Augen, wenn sie hier trainieren, diese jungen Athletinnen! Mit Körpern geschmeidig wie Großkatzen. Wie sie lauern, wie sie jeden Muskel anspannen, das Gegenüber im Blick gefangen. Kein Muskelzucken entgeht ihren auf die Andere gerichteten Augen. Jedes Zucken, jedes Flackern registrieren sie, um daraus den Angriff abzuleiten, die Technik des Wurfs zu bestimmen.
Und wie sie sich selbst hineinwerfen in das Spiel, wie sie ihren Körper über seine physikalischen Grenzen hinaustragen, wie sie ihn in ungeahnte Höhen schwingen, um den Ball unannehmbar im Feld der Gegnerin zu platzieren! Sie, die Verschwörungsmeisterinnen mit ihrem Fingeralphabet.
Und dann dieser eine Moment, den ich den „Königinnenmoment“ nenne. Dieser kurze Augenblick der Weiblichkeit. Wenn der Angriff vorbei ist und die Konzentration nur für Sekunden weicht. Wenn aus dem Athletinnenkörper ein Frauenkörper wird. Weich und rund. Warm und einladend. Nachgiebig und sanft.
Wenn für diesen kurzen Moment nur die Anspannung weicht und eine Brust wieder eine Brust ist, ein Schenkel wieder ein Schenkel. Weil er die Spannkraft zugunsten einer Sanftheit verliert, die einen einsaugen und in der Gänze umschließen will … Ich werde meinen Verleger anrufen, der soll mit dem Kister sprechen. Ich lass mir doch nicht von so ’nem Feuilletonfritzen meinen Text kaputt machen.

Musste Reise nach Denver absagen, der Magen.

Juni, im Zug nach St. Blasien
Farbenwechsel. Ich muss meinen Füllfederhalter zu Hause liegen gelassen haben. Statt in sattem Schwarz muss ich nun in trübem Blau meine Zeilen füllen. Auch vor meinem Auge vollzieht sich jetzt ein Wechsel der Farben. Führte mich der Zug eben noch über satte, sommergrüne Wiesen, über denen der blaue Himmel sich bog, bringt er mich jetzt hinein in das dunkle Tannengrün des Waldes, auf dem das Blau wie ein Dach liegt.
Überlege, doch noch etwas zum Jubiläum der Märchen der Gebrüder Grimm zu verfassen. Deutschland wird immer ärmer an Gedanken und an Denkenden. Es gibt nicht mehr viele, die wie ich, den Scherenschleifer, der dem Hans die Gans abschwatzte, noch erlebt haben. Und in den Brunnen, der zu Frau Holle führt, habe ich noch hinabgeschaut. Und durch die Wälder, durch die Hänsel und Gretel irrten, bin ich noch pfeifend gegangen.
Die Märchen, diese wunderbaren Märchen sind unser ältestes Testament. Wem nützt ein Apparat in der Hand, der sprechen kann, wenn die Inhaltslosigkeit sich wie ein Gewürm durch die Köpfe frisst? Wem nützt das Geld, das als Zahl an den Wänden der Wall Street aufflackert, wenn doch die Gemüter, die Geister, die Seelen der Menschen heute so arm sind?

Speisewagen, Impressionen
Schöne neue Welt; rotweiß wie Erdbeeren mit Kondensmilch. Beamte auf Schienen. Küchenbeamte. Eine Speisekarte wie ein Formular. Abweichungen nicht möglich. Die Freiheit des Speisens den Paragrafen der Deutschen Bahn zum Fraße vorgeworfen.

Nürnberger wie immer ausverkauft. Sozialistische Bratwurstbeschaffe. Letzte Bastion einer alten Ordnung. Ein Blick. Eine Frau. Ein Ausschnitt. Augenaufschlag über Erbseneintopf mit Wacholderschinken und Minze, die Weiche gibt dem Zug seine neue Richtung. Bäume verkommen zu grünem Hintergrundrauschen. Flüchtige Begegnung des Fortkommens.

Juli, Aarhus
Ich bin nach meinem Aufenthalt in Kopenhagen nun in Aarhus. Werde am Nachmittag Gretchen Dutschke treffen, wir wollen gemeinsam zu Rudis Lieblingsplatz gehen. Ich hoffe, sie erzählt mir von Dutschkes Jahren hier. Denke darüber nach, sie zum Ausgangsmaterial für einen Roman zu machen. Muss der Maßlosigkeit Uwe Timms etwas entgegensetzten, der die Dreistigkeit hatte, aus zwei, drei Randbegegnungen mit Ohnesorg einen Roman zu machen. Immerhin einen schlechten.
Die Figur, ein Karl Eismöwe, wäre die Figur einer gescheiterten Revolution, die nach einem Anschlag in der Fremde nur mühsam seine Fähigkeiten, sein Ich zurückerlangt. Eismöwe versucht, ein Leben zu finden im heute, vor dem Hintergrund, dass ihm sein Gestern nur aus Zeitungen bekannt ist. Ein Mann, dessen Vergangenheit nur in der Erinnerung anderer existent ist.
Die Handlung spielt am Meer. Das Wiederkehren der Wellen, ihr Schlag, ihr Klang, ihr rhythmisches Zurückweichen symbolisieren seine Versuche, sein vergangenes Leben zu greifen. Ein aussichtsloses Unterfangen, an dessen Ende das Unausweichliche steht.

Wenn ich die Augen schließe und nur auf die Laute höre, wähne ich mich in einem Zwergenland, so putzig kullern die Ös und snafeln die Konsonanten aneinander. Herrlich! Habe Lakritz für die Kinder gekauft. „Hundepups“ heißen die hier oder „Dünnslöter“, was so viel wie Dünnschiss heißt. Alissa wollte, dass ich ihr eine Poul-Henningsen-Leuchte mitbringe. Aber ich finde, die kann sie sich selbst kaufen. Sie ist ja schließlich schon fünfzig.

Juli, Zug, Rückfahrt von Köln
Gestern Lesung in der Buchhandlung D. gehabt. Ausverkauftes Haus. In den erste Reihen wieder mal die Gattinnen-Liga. Das war auch mal anders. Da saßen mal Frauen, die es wissen wollten. Jung. Neugierig. Ungestüm. Nur die Buchhändlerinnen bleiben gleich. Ungeklärt auch, warum sie – wie die Galeristinnen – sich immer wie ein Tannenbaum behängen müssen. Vornehmlich mit Art-Deco-Geschmeide. Große bunte Perlen und Asymmetrie als Ausdruck des Ichs. Dabei sind sie selbst im Art-Deco-Zeitalter angekommen.
Frage mich, ob die nicht mehr ausbilden. Kettengeklimper von den Kettenhündinnen des Literaturbetriebs. Haben ja alle einen Sublimierungsberuf gewählt. Und wenn ich dann feststelle, dass es wieder nur die Art-Deco-Weiber sind, die anschließend mit auf einen Wein kommen, dann frage ich mich, ob sich das eigentlich noch lohnt. Die Lesungen.

Gestern im Speisewagen saß mir eine junge Frau mit Kind gegenüber. Das rollende R verriet sie als osteuropäische Kinderfrau. Liebevoll las sie der Kleinen aus einem Pixi-Buch vor, wobei ihr das stramme R so rund und voll über die Lippen kam, wie sich ihre Brüste unter der Bluse erahnen lassen. Danach malte das Kind in einem Malbuch. Ich hatte schon bemerkt, dass es mich beobachtete, war dennoch nicht vorbereitet, als es mitten im Malen aufblickte, mich ansah und fragte: „Bist du Käptn Iglo?“
Ich habe die Anekdote abends meiner lieben Frau erzählt, die herzlich lachte. Mir aber mir ist nicht zum Lachen. Ich kann das beim besten Willen nicht witzig finden.

Die Texte sind zuvor in der taz veröffentlicht worden. Die Langfassung findet Ihr hier

Bildmontage: Simone Glöckler

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