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Palais F*luxx

Online-Magazin für Rausch, Revolte, Wechseljahre

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Dreckige Gedanken

Regina Kramer erkundet ihr Verhältnis zu Schmutz und Siff und begreift die traurige Kraft mangelnder Sauberkeit als Waffe

Entspanntes Zurücklehnen? Geht so, wenn man sich fragt, wer in welchem Klamottenzustand auf dem Sitz gesessen hat, wer mit welchem Haarzustand seinen Kopf angelehnt hat Foto: Chuttersnap/unsplash

Da sei das gelbe Zeug auf ihrem Fensterbrett, morgens, wenn sie aufstehe und rausgucke. Das Gelbe habe sie auch auf dem Balkon gefunden und dann sogar auf dem Parkett im Zimmer. Sie putze es mit feuchtem Tuch weg.
Vor dem Frühstück?
Ja. Und am Nachmittag noch einmal.
Sie habe sich jetzt Plastiküberschuhe gekauft, damit sie auf dem Balkon stehen und wischen könne und nicht alles mit den Füßen reintrage. Sie reagiere allergisch darauf, mit Schnupfen und Tränen, sie warte dringend auf das Ende der Pollenzeit. Birken. Linden. Fichten. Walnuss. Gräser.
Ich bin sicher, dann kommt das nächste Unheil in Form von Saharastaub, abgefallenen Blättern, dann Vogelscheiße und Fliegenleichen, dann Regentropfen. Irgendwas ist immer.
Einmal habe ich gesagt, mein Schreibtisch sehe aus wie Sau. Das hat sie nicht geglaubt. Du machst immer so einen aufgeräumten Eindruck, hat sie gesagt.

Katholischer Reinigungsritual – einmal Beichten, bitte!

Schmutz ist bäh. Sauber ist schön. Wenn alles sauber ist, dann fühlt man sich doch gleich viel besser.
Als ich ein Kind war, ein katholisches, da war mein Lieblingstag der Samstag. Am Samstag ging ich beichten. Danach fix ein paar Vaterunser gebetet und schwups war die Seele wieder rein. Die besten Samstage waren die, an denen ich nach der Beichte in die Badewanne ging. Mit Haarewaschen. Und schließlich in einem frisch bezogenen Bett einschlafen. Alle Sünden, alles Böse weg. Das war das reine Glück.
Im Laufe der Zeit wurde das Leben weniger fromm und mehr dreckig.
Aber was heißt schon Dreck? Unflat, Unrat, Schmuddel, Siff, Schmutz. Ist klebrig, schmierig, erdig, staubig, haarig, glitschig oder fettig. Ist eklig, unhygienisch, nicht in Ordnung.
Immer? Nö.
Was wir als Schmutz empfinden, hängt vom Kontext, von der Situation und von der individuellen Wahrnehmung ab.
Sand im Blumentopf ist gut. Sand in der PC-Tastatur ist Mist.
Spucke ist fies – aber nützlich, wenn Mama mal kurz den Baby-Mund mit einem Finger sauber wischen will. Spucke vor die Füße des Fahrkartenkontrolleurs gerotzt ist respektlos und vermutlich teuer. Spucke beim Küssen gilt Verliebten als aufregend.
Weil sie, was gegen Küssen spricht, nicht merken: die Nasen im Weg, der Atem so nah, wohin genau mit den Zungen und dann noch das Schmatzen. Das Begehren ist groß und übersieht, was befremdlich sein könnte.
Und jetzt noch Anmerkungen zu Sperma im Gesicht? WTF.

Ein Industriezweig lebt von unserem Sauberkeitsfimmel

Das wird mir jetzt zu subjektiv und zu dreckig hier.
Ok. Dann machen wir Ordnung. Fegen. Wischen. Saugen. Putzen. Desinfizieren. Wegmachen. Schöner machen.
Der Industrieverband Körperpflege und Waschmittel ermittelte 2021 in Deutschland einen Jahresumsatz von 18,7 Milliarden Euro. Dazu kommen noch 5,1 Milliarden Euro Umsatz für Putz- und Reinigungsmittel. Ich bin dabei, auch wenn ich keinen Preis bei „Sauberer Wohnen“ bekäme. Mein Küchenschrank ist voll mit neuen, halb leeren, halb eingetrockneten Produkten. Und bunten Schwämmchen ohne Ende. Auch wenig effizient sieht es im Badezimmer unter dem Waschbecken aus. Ich horte Zahnbürsten wie andere im Moment Sonnenblumenöl. Ich entdecke drei Tampons, als Souvenir oder was? Und Lippenstifte, die ich nie benutze. Nagellack, eingetrocknetes Make-up. Drei Nagelfeilen. Super Männer-Parfum. Ich bin gerüstet für alle Fälle, in denen es und ich ordentlich aussehen sollenmüssenwollen.
Jetzt zum Beispiel. Ich bekomme Besuch. Ich will Freund:innen fragen, wie sie es mit dem Dreck halten. Ich werde Wein, Käse und Trauben anbieten, sie werden mir ihre Erfahrungen mit Ordnung-Machen schenken.  
Unvollständige Zusammenfassung:

Ich putze nicht gerne. Aber was muss, das muss.

Ich lieb‘s, wenn ich sauer bin. Dann klatsch‘ ich die Tücher auf den Boden, als würde ich einem eine knallen. Und wenn dann alles clean ist, doppeltes Win-win.

Putzen ist wie Sisyphos. Never ending story. Was heute glänzt, ist morgen schon wieder staubig. Aber man soll sich Sisyphos ja als glücklichen Menschen vorstellen.

Vermutlich hatte Camus eine Putzfrau. Never ending stories nur aufgeschrieben, nicht erlebt.

Neulich habe ich bemerkt, dass die meisten eine polnische Putzfrau haben. Oder eine aus Bosnien. Wir wollen mit dem Dreck, den wir machen, nichts zu tun haben. Und immer sind es Frauen aus Osteuropa. Bisschen kolonialistisch?

Das finde ich jetzt übertrieben. Gibt ja auch Männer, die putzen.

Am liebsten nackt. Nein, Danke.

Also, ich habe das Gefühl, dass wenn außen alles aufgeräumt ist, es dann auch innen stimmt.

Hat denn niemand je Lust, sich total gehen zu lassen? Dreckig sein wie als Kind? Egal, was irgendwer dazu sagt?

Ich fahre jedes Jahr auf ein Festival, wo es dreckig, laut und schlammig zugeht.

Geil. Und dann den Rest des Jahres wieder adrett ins Büro oder hinter die Kasse und ins Lehrerinnen-Zimmer?

Sprache als Dreckschleuder

Es gibt: schmutzige Gedanken, dreckige Lache, kleine Schmutzfinken.
Dirty writing. Dirty dancing. Pulp Fiction. Schweinkram denken, tun, lesen. Schmutz- und Schundliteratur.
Wer bestimmt, was sauber und was Dreck ist?  
Ehemalige Nazis bekamen nach 1945 einen Persil-Schein für die „weiße Weste“. Außen hui, innen pfui.
Ende der 60er Jahre beschimpfte F. J. Strauß, bayerischer Ministerpräsident, die revoltierenden Studenten als Schmeißfliegen, Ratten, Abschaum, Dreck, Ungeziefer. Nestbeschmutzer.
Gerhard Schröder nannte Putin einen lupenreinen Demokraten.
Alexander AfD-Gauland schlug vor, die Integrationsbeauftragte Aydan Özoğuz in Anatolien zu entsorgen.
Social media quillt regelmäßig über mit verbalen Ausbrüchen von Hass, Verachtung und Bestrafungsfantasien. Virtuelle Schlammschlachten mit gelegentlichen Folgen im Reallife.
Verschlampt. Verlottert. Verludert. Verwahrlost. Im Herzen. Im Kopf.

Zum Geburtstag ein Stück Seife für Feli

Jetzt aber zu Feli, eigentlich Felicitas. Mit 13 Jahren hörte sie mit der Körperpflege auf.  Nach ein paar Wochen wollte niemand mehr neben ihr in der Klasse sitzen. Feli stank. Das war der Zweck. Keine Nähe. Nach dem Abitur bekam Feli eine Ausbildungsstelle in einer Verwaltung. Wieder wurde sie von den Kolleg:innen gemieden. Einmal hat eine ihr zum Geburtstag ein Stück Seife geschenkt. Ich weiß nicht, ob Feli selber kündigte oder ob ihr gekündigt wurde.
Ich habe sie bei einem Gerichtsprozess kennengelernt. Ihr Stiefvater war wegen sexuellen Missbrauchs an ihr angeklagt. Während der Verhandlungen hatte Feli als Nebenklägerin ausgesagt, dass sie, wenn sie ihre Periode hatte, ihre blutigen Slips sichtbar auf die Heizung im Wohnzimmer gelegt hatte. So signalisierte sie ihrem Stiefvater: heute nicht. Tatsächlich ließ er sie in Ruhe in diesen Tagen. Die Verteidiger des Angeklagten reagierten angeekelt auf Felis „Provokation“.
Der Stiefvater wurde vom Gericht zu sieben Jahren Haft verurteilt.

Der große Wunsch: mit sich im Reinen sein

Auch später behielt Feli ihre Strategie bei. Sie wusch sich selten, sie räumte ihre Wohnung nicht auf. Nachbarn beschwerten sich über den Geruch im Treppenhaus. Die letzten Bekannten ließen sich nicht mehr blicken. Ein Grund mehr, nicht aufzuräumen. Die Mutter wollte ihr eine General-Reinigung bezahlen. Weil: Sauber fühlt man sich doch viel wohler.
Aber Feli war in einer sauberen, kleinen Familie von einem netten, angesehenen Stiefvater regelmäßig vergewaltigt worden. Alle ordentlichen Familienmitglieder hatten nichts gemerkt. Da lässt die Begeisterung für Ordnung möglicherweise nach.
Das Drama waren nicht die ungewaschenen Haare oder die Berge von schmutzigem Geschirr. Das Drama war, dass Feli vor lauter Not, sich jeden vom Leib halten zu müssen, jeder Form von Nähe misstraute. Sie behandelte sich so, wie ihr Stiefvater sie behandelt hatte: Sie war es nicht wert, gemocht zu werden. Sie fühlte sich wie Dreck.

Ich habe Feli aus den Augen verloren. Aber wenn ich an sie denke, so wie jetzt, dann wünsche ich ihr, dass sie erfahren darf, dass der Täter ihr nicht nur seine unerwünschte und gewalttätige körperliche Nähe, sondern auch seine Drecks-Gefühle von Abwertung, Erniedrigung und „Beschmutzung“ aufgezwungen hat. Dass nichts von alledem ihre Schuld ist. Dass ihre Seele glauben darf, was das Gericht bestätigt hat. Und ich wünsche ihr, dass sie langsam lernen kann, wie das geht: mit sich im Reinen zu sein. Und das hat nichts mit staubfreiem Teppich zu tun.

Schmutz als Zeichen der Zeit. Regina Kramer fotografiert sich selbst
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