Christina Sothmann: „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ von Peter Høeg
Ein Roman, den das Literarische Quartett als schwachen Krimi abtat. Der das Wort „Fräulein“ im Titel trägt und von einem Mann geschrieben wurde. Und trotzdem lande ich bei der Frage, welches Buch mich am meisten geprägt hat, immer bei „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ – weniger wegen des zum Ende hin reichlich verschwurbelten Plots als vielmehr wegen seiner wunderbar garstigen Hauptfigur mit ihrer klaren, schönen Schneesprache; sie ist so etwas wie ein Leitstern für mich geworden.
Als das Buch 1994 in Deutschland erschien, hatte ich den vermeintlichen Aufstieg vom Arbeiterkind geschafft und einen akademischen Titel erworben, eine Altbauwohnung in einer Großstadt bezogen, ein Tages-zeitungsvolontariat ergattert, lebte in einer Beziehung auf Augenhöhe – und fühlte mich trotzdem irgendwie falsch. Der Roman kam zu mir, weil meine Mutter wie jedes Quartal nicht wusste, welchen Band sie als Mitglied der Büchergilde Gutenberg bestellen sollte. Bedeutet: In der Kindheit gehörten Bücher nur in überschaubarer Stückzahl zu meinem Umfeld, gewerkschaftliches wie politisches Engagement (die Büchergilde wurde von Gewerkschaftern gegründet) dagegen waren Pflicht. Im stramm sozialdemokratisch geprägten Haushalt ging es vor allem darum, gesellschaftliche und soziale Missstände aufzudecken und anzuprangern. Die Frauenfrage zählte nicht dazu, da wähnte man sich schon weit und vieles war selbstverständlich: das Recht auf Abtreibung, auf Berufstätigkeit der Frau. Und doch war Bildung für den weiblichen Nachwuchs weniger wichtig als sein Verhalten: Nett, fleißig, angepasst hieß das anzustrebende Ideal. Immerhin, es gab Vorbilder, eine ebenso grantige wie großartige Großmutter, eine Handvoll kämpferischer, junger 68er-Lehrerinnen, die mich ermunterten, aufs Gymnasium zu gehen – auch gegen den Willen der Eltern.
Als „Smilla“ herauskam, fühlte ich mich auf der Höhe der Zeit, hielt mich für emanzipiert, weil ich – abgesehen davon, dass ich unabhängig war und mein eigenes Geld mit einem Beruf verdiente, von dem meine Mutter nicht einmal zu träumen gewagt hätte – mich niemals von Männern einladen und mir von ihnen schon gar nichts sagen ließ. Doch erst, nachdem ich Smillas Bekanntschaft gemacht hatte, wurde mir klar, dass das, was ich für ein erstrebenswertes Leben gehalten hatte, noch gar nicht meins war. Warum da Tag für Tag ein Schmerz in mir rumorte. Statt meiner agierte eine junge Frau, die sich irre nett und irre fleißig dabei krümmte, erfolgreich und anerkannt in einem für ihre Herkunft besonderen Beruf zu sein. Dabei jeden Konflikt umschiffte, sich selbst verleugnete – aus lauter Angst, jemand könnte merken, dass sie dort gar nicht hingehörte. Irgendwann lastete das alles so schwer auf mir, dass ich morgens nicht mehr aufstehen, nicht mehr in einen Tag starten wollte, der sich so falsch anfühlte. Obwohl doch alles so gekommen war, wie ich es mir gewünscht hatte.
Mein größtes Handicap – der Wunsch nach Anerkennung in einer mir fremden Welt, deren Regeln ich nicht wirklich durchschaute. Wieso mir das erst durch die Lektüre von Smilla klar wurde und nicht durch die zahlreichen Therapien, mit denen ich meine Depression zu behandeln suchte – keine Ahnung. Ein deutscher Schauspieler hat mal in einem Interview gesagt, Depressionen sind, wenn man sich nicht spürt. Damit hat er, zumindest was mich betraf, den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich musste mir erst den gesellschaftlichen Aufstieg erarbeitet haben, um mein Dasein aufs Individuelle runterbrechen zu können und mich dort zu spüren. Und ich spürte, dass ich mich in der bürgerlichen Welt, in der ich nun weitgehend lebte und arbeitete, nicht heimisch fühlte. So wie Smilla, die, halb Dänin, halb Inuit, weder in Kopenhagen noch in Grönland zu Hause ist. Aber Smilla geht anders mit der Fremdheit um; sie versucht nicht, sich um jeden Preis anzupassen. Sie scheut das Anderssein und das daraus folgende Alleinsein nicht. Sie hat keine Angst, ihre andere Meinung zu sagen, keine Angst auszuteilen, selbst wenn es körperlich wird. Smilla lächelt nicht, sie smalltalkt nicht, sie ist nicht nett, nicht lieb und nicht putzig, sondern zurückhaltend, manchmal schroff, aggressiv, wenn ihr jemand dumm kommt, ansonsten unnahbar, ja geradezu autistisch. Und dafür liebte ich sie sofort – und liebe sie immer noch. Auch dafür, dass sie trotzdem mit großer Leidenschaft lieben kann, den Schnee, das Eis, den schweigsamen Mechaniker und den kleinen Jungen, der zu Beginn des Romans stirbt und dessen Tod sie aufklären und rächen wird. Sie verbiegt sich nie, weder für die Liebe noch für die Freundschaft, schon gar nicht für die Familie oder den Beruf, sie folgt ihrem inneren Kompass, bleibt sich und ihrer Garstigkeit treu, liebt ausschließlich kompromisslos. Sie will nicht gefallen, sie giert nicht nach der Anerkennung anderer.
Smilla hat mich auf den Weg gebracht. Ich würde nicht behaupten, dass ich angekommen wäre. Oder eine Smilla sei. Sie ist eine literarische Figur, in ihrer Kompromisslosigkeit extrem und wohl ein Role Model für all die spröden Kommissarinnen, die uns die skandinavische Serienwelt seither lieben lehrte. Aber seit ich Smilla kenne, weiß ich, dass man ein Alien sein und trotzdem seinen Platz finden kann, ohne sich verbiegen zu müssen. Von ihr habe ich gelernt, dass es nicht an uns ist, uns passend zu machen für die Welt, in der wir leben. Im Gegenteil: Indem wir uns zeigen, wie wir sind, wählen, erschaffen wir uns die Umwelt, die zu uns passt. In der wir ganz wir selbst sein können. Und was nicht passt, muss auch nicht passend gemacht werden; eine Handvoll Achtung, Respekt und Toleranz reicht vollkommen für weitgehend friedliche Koexistenz. Was in Ordnung ist. Man muss nicht jeden lieben und auch nicht von jedem geliebt werden.
Immer nett sein, fleißig sein, sich anpassen führt auf den falschen Weg; er überwindet nicht die Fremdheit, man verliert nur die Augenhöhe, weil man sich selbst verliert. Die Welt, in die ich aufgestiegen bin, wird mir wohl immer ein bisschen fremd bleiben. So wie mir auch meine alte Welt in vielerlei Hinsicht fremd geworden ist. Und dennoch Teil von mir bleibt. Aber dank Smilla weiß ich, dass auch der Raum zwischen den Stühlen ein guter, ein lebenswerter sein kann.
Christina Sothmann hat als Drehbuchautorin zum Beispiel den Rostocker „Polizeiruf 110 Kindeswohl“ geschrieben. Eine düstere, traurige Geschichte – und das, obschon alles so lustig begann: Das kleine Filmchen, das sie zum Abschluss ihres Volontariatskurses mit zwei weiteren Frauen drehte, war das sehr schräge „Ego – Das Singlemagazin“. Sollte dies es in die Digitalisierung schaffen, stellen wir es mit Freude hier ein!