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Palais F*luxx

Online-Magazin für Rausch, Revolte, Wechseljahre

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Ruth Reinecke – Lebensgeschichten

Ruth Reinecke
Foto: Esra Rotthoff

Nein, ich will nicht aufgeben. Ich will für mich und meine Altersgruppe um ein komplexes und sensibles Abbild unserer selbst kämpfen. Das, was zu sehen ist in der medialen fiktionalen Öffentlichkeit über die „Alten“, ist unzureichend, thematisch veraltet, unsinnlich, falsch in den Rollenbildern der Ü-60-Jährigen, aber auch schon der Jüngeren; es ist, bis auf wenige Ausnahmen, verletzend und klischiert. Wir werden einfach nicht erzählt mit, durch und in unserem Leben, das wir LEBEN.

Eine Erfahrung:
Interessiert an diesem Thema des Alterns, nicht nur persönlich, sondern auch strukturell und immer noch mit Lust darauf, dazuzulernen und auf spielerische Herausforderungen und Entdeckungen, habe ich mich etwas eingelesen in diese Thematik. Es gibt genug Studien, Literatur, es gibt das Zentrum für Altersfragen, und seit Neuestem eine Studie zu Ageismus und zu Altersdiskriminierung.
Also meldete ich mich zu einem Parlamentarischen Abend des Zentrums für Altersfragen an. Beim Empfang am Abend fiel ich durch meine Berufsgruppe auf. Anwesend waren dort zumeist jüngere, politisch aktive Menschen von gesellschaftlichen Organisationen.
Ich war nur durch mich selbst vertreten, eine neugierige Person aus der Gruppe der Älteren. Ich habe mich dazugesellt. Ein interessanter Abend. Ich kann hier nicht alles wiedergeben, was dort Thema war. Vieles ist Thema seit Jahren. Man kann es nachlesen.
Immer wieder war von dem Potenzial des Alterns, von dem Lebenszugewinn durch eine hohe Lebenserwartung die Rede. Und wie diese Potenziale zu nutzen sind oder gesehen werden oder gelebt werden. Oder eben nicht, aus unterschiedlichen Gründen. Einkommen, Bildung, Herkunft, Familienstand. Es ging um Vielfalt, aber auch um Ungleichheit. Seit 35 Jahren, so hörte ich, wird die Kritik an den eindimensionalen öffentlichen Altersbildern geführt, den Wunschvorstellungen von und Vorurteilen über die Alten. Es war von der digitalen Kluft die Rede ebenso wie davon, dass ältere Menschen ebenso ihren Blick in die Zukunft richten wie die Jungen. Ein breites Spektrum von Themen.
Neben mir saß eine junge Frau, es stellte sich heraus, dass sie eine der Autorinnen der Studie „Ageismus – Altersbilder und Altersdiskriminierung in Deutschland“ ist. Schon waren wir im Kontakt. Die Studie ist aus vielen Gründen lesenswert und wertvoll.

Ich erlaube mir aus den „Übergreifenden Handlungsempfehlungen“ zu zitieren:
„… die Lebensphase Alter ist als eine lange (und immer länger werdende), kulturell formbare und wertvolle Lebensphase mit eigener Entwicklungsdynamik zu begreifen, anstatt sie als determiniertes, statisches und unerwünschtes Geschehen jenseits des 60. Lebensjahres zu betrachten.“

„Es ist eine Sensibilität für ungerechtfertigte negative oder positive Behandlung von Menschen aufgrund von Lebensalter zu entwickeln und zu thematisieren, anstatt Altersdiskriminierung zu leugnen und zu bagatellisieren; hierzu gehört auch ein Bewusstsein für Formen von Ageismus wie etwa Bevormundung, Ignoranz oder herablassende Behandlung der eigenen Person.“

Es gibt also viele kluge Menschen, die sehr genau wissen, wo die Differenzen und Defizite sind. Sie können sehr genau beschreiben, wie vielfältig das Leben jenseits der Fünfzig ist. Und jetzt ist auch klar, warum ich so weit aushole.

Ich komme auf meinen Lebensbereich zurück. Ich bin ja beides, Zuschauerin und Schauspielerin und natürlich eine Frau älter als 60 Jahre. Eine älter werdende Gesellschaft ist eine Gesellschaft des langen Lebens. Des LEBENS. Der Vielfältigkeit. Eines Lebens mit unendlich vielen Geschichten, Turbulenzen, Verrücktheiten, Einbrüchen und dem Wiederaufrichten und natürlich der Erfahrungen. Ein Leben lang. Die werden aber nicht oder nur sehr selten erzählt. Deutschland ist eine offene Gesellschaft, die allerdings die Älteren in ihrer Vielfalt gern öffentlich ausblendet; ich lasse mal die gehuldigte Oma und das Ehrenamt beiseite. Die Potenziale der Älteren sind viele gelebte Geschichten und diese sind zu zeigen, sie möchte ich sehen und sie möchte ich spielen. Und Verzeihung, was ist das Rollenangebot an mich? Eine Komapatientin. Dies einer Schauspielerin mit 44-jähriger Berufserfahrung und mit respektabler Theater- und Filmbiografie anzubieten, geht gar nicht.

Ich muss feststellen, dass meine Generation Frauen nahezu chancenlos im Schauspielberuf ist. Es werden zu wenige Geschichten dieser Menschen erzählt. Sie werden weggeblendet. Das steht in krassem Gegensatz zu dem gelebten Leben von über 22 Prozent der Bevölkerung. Die fiktionalen Medien brechen unter Krimireihen, Serien und Thrillern zusammen. Die älteren Schauspieler:innen tummeln sich dort im Supporting Act. Warum gibt es in den Redaktionen keinen Mut, andere Erzählformate zu kreieren? Und warum werden kaum generationsübergreifende Erzählungen entwickelt? Es braucht dringend Mut und Fantasie und Qualität!

Die sogenannten „Zielgruppenformate“ teilen und spalten die Zuschauer auf. Das führt zu einer Verzerrung gesellschaftlicher Realität und einer Verarmung des Erzählens menschlicher, bewegender Geschichten. Es ist längst notwendig, kulturelle, soziale, religiöse, ethnische Lebensbiografien in Altersbildern oder Lebensbildern oder Menschenbildern zu NORMALISIEREN und zu SENSIBILISIEREN. Stereotype Alterscharakterisierungen sollten ein Tabu sein.

Ich wünsche mir eine breite und offene Debatte.
Schaut uns ins Gesicht. Bringen wir selbstbewusst unsere Lebensgeschichten in die fiktionalen Medien.
Ich wünsche mir, dass bei jedem Festival, jeder Veranstaltung zu Film und Fernsehen diese Themen angestoßen und provoziert werden.
Alle an einen Tisch: Schauspieler:innen, Drehbuchautor:innen, Regisseur:innen. Und: In die Offensive!
Ich bin gern dabei!

Ruth Reinecke

Wir sind das Magazin, das nicht nur Themen von Frauen* ab 47 abbildet, sondern sich gesellschaftspolitisch einmischt. Und dazu gehört #Sichtbarkeit47+ – im Herbst 2021 gestartet, erweitern wir unser Anliegen auch im Film und TV realistisch abgebildet zu werden, mit der Aktion #Letschangethepicture.

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