Sind wir nicht alle ein bisschen bi?
In meinem Freund:innenkreis gibt es eine neue Entwicklung. Frauen wechseln haufenweise die Partner. Aber nicht, um sich den nächsten Typen zu angeln. Viele sind plötzlich mit Frauen zusammen. Das kommt natürlich nicht von ungefähr. Jahrelang habe ich mir ihren Frust über die Männer angehört, die sich zu wenig um die Kinder kümmern, im Haushalt nur etwas machen, wenn man ihnen droht, ihr liebstes Spielzeug – die Fernbedienung fürs Streaming – wegzusperren und über die Enttäuschungen im Bett, weil er auch nach zwölf Jahren Beziehung immer noch nicht richtig weiß, wo jetzt genau die Klit sitzt. Beziehungsweise es ihn einfach nicht interessiert. Hauptsache, er ist gekommen.
Hetero-Paare leiden an struktureller Schieflage
Gerade fand ich bei ze.tt, dem Jugendportal von Die Zeit, ein bestechendes Essay von Lou Zucker, das sich genau diesem Thema widmet: Hetero-Müdigkeit. Sie macht es an der strukturellen Ungleichheit zwischen den Geschlechtern im Patriarchat fest, dass Hetero-Beziehungen einfach immer einen Sack voll Probleme mit sich bringen. Zu lösen nur, falls Männer bereit sind, an sich zu arbeiten.
Wenn wir Frauen ehrlich sind, bekommen wir von anderen Frauen eigentlich alles, was in unserem sozialen und emotionalen Leben wichtig ist. Anteilnahme, Nähe, tiefe Gespräche, Unterstützung. Was mitunter fehlt, ist die sexuelle Nähe. Umso spannender finde ich es, dass Frauen, die sich nie vorstellen konnten, mit Frauen im Bett zu landen, genau dies in meinem Umfeld jetzt tun. So meinte Marie neulich zu mir: „Ich war einfach reif, es mal auszuprobieren, und war überrascht, wie es mich getriggert hat. Und jetzt bin ich echt verliebt. Es ist alles so viel selbstverständlicher zwischen uns.“
Eine andere Freundin, die gerade in Trennung von ihrem Mann lebt und sich mit ihm um den Unterhalt streiten muss, war bei einer Party einfach ein wenig von einer Frau überrumpelt worden. Erst hatten sie nur zusammen getanzt und gelacht, dann wurde geknutscht und sie war selbst überrascht davon, dass sie das anmachte. Jetzt sind sie auf dem Weg zu einer festen Beziehung.
Ok, mag sein, dass eine gewisse Verzweiflung über die CIS-Männer dazu führt, experimentierfreudiger zu werden. Aber so what? Fast alle Frauen hatten in ihrer Pubertät erotische Beziehungen zu Freundinnen. Ich erinnere mich noch an meine Teenager-Zeit, wo mich nichts mehr anmachte als die Brüste einer meiner Freundinnen. Vielleicht haben wir diese Erlebnisse nur vergessen oder verdrängt. Ich hatte während meiner Studienzeit Beziehungen zu beiden Geschlechtern. Ich war aber auch nie auf dem Trip, eine klassische Familie mit Kindern, Haus und Hund haben zu wollen. Aber wer sagt eigentlich, dass man das nicht haben kann, ohne ein Leben lang eine eher unbefriedigende Beziehung mit einem Mann zu führen, der einfach nicht auf die Bedürfnisse seiner Frau oder Freundin eingehen will?
Sex mit Männern, aber leben mit Frauen
Auch ich habe noch Bock, mit Männern ins Bett zu gehen. Und ich kann auch mit ihnen lachen, streiten, gute Gespräche führen. Für einen gewissen Zeitraum, dann ist es für mich gut, wenn wir auf Abstand gehen. Würde mir bei meinen Freundinnen nie einfallen, auf Distanz zu gehen. Ihre Nähe, ihre Zuneigung und ihre Anteilnahme an meinem Leben, das ist von Dauer. Und manchmal führt es dazu, auch mit ihnen ins Bett zu gehen. Nicht mit allen, aber einigen. Ich bin mir allerdings relativ sicher, dass fast alle Frauen eine Bi-Seite an sich haben, die oft nur nicht gelebt wird.
Vielfalt erfahren
Ich habe eine langjährige Freundin in London. Wir kennen uns, seit wir 14 waren. Ich lernte sie auf einem Austausch kennen, um Französisch zu lernen, sie Deutsch. Ich habe sie immer heimlich bewundert, sie war so klug und schön und hatte diesen französischen „Je-ne-sais-quoi“(sie hat das gewisse Etwas)-Faktor. Über Jahre fuhren wir uns gegenseitig besuchen. Irgendwann verliebte sie sich in einen Engländer, bekam ein Kind und zog nach London. Wir sahen uns sporadisch, wenn ich auf Dienstreisen dort war. Wir waren schon beide Ende 30, als wir miteinander im Bett landeten. Ihr Mann hatte einen Foto-Job, ihre Tochter war außer Haus, wir tranken Tee, redeten. Der Augenblick der Begierde kam für uns beide unerwartet. Es war zart, emotional, innig. Auch wenn es sich danach nicht wiederholte, schwang diese erotische Begegnung immer bei unseren Treffen mit. Und sagte mir, dass vermutlich fast alle Freundinnen für eine solche Begegnung offen wären, wenn sie nicht so auf die klassische Kleinfamilie fixiert wären.
Natürlich soll jede Frau mit einem Kerl zusammen sein, wenn sie es will. Aber wie wäre es dennoch mal mit Experimentierfreude? Möglicherweise ergeben sich daraus völlig neue Konstellationen für das eigene Leben, die einen einfach glücklicher machen. Das Tolle ist ja, wir Frauen können alles haben: Männer, Frauen, monogame Beziehungen, nicht-monogame Beziehungen, wilden Sex, zärtliche Erotik, Kinder mit und ohne Männer. Hauptsache, wir erlauben es uns. Und im Ausprobieren, im Abschied von klassischen Beziehungs-Vorstellungen liegt möglicherweise auch der Schlüssel, wie Hetero-Beziehungen funktionieren können. Eben nur anders als in der Vergangenheit. Ich bin jedenfalls sehr gerne auch ein bisschen bi. Und sehr glücklich damit.
Das, was Suzette Oh hier schreibt, ist recht genau das, was Silke Burmester erlebt und erlebt hat. Über das Glück, eine Frau zu lieben, haben wir diesen Text von ihr veröffentlicht
Suzette Oh ist im besten Alter, um die richtige in Theorie und Praxis erfahrene Sexpertin für uns zu sein. Tatsächlich hört sie außerhalb der gedämmten Wände auf einen anderen Namen, möchte aber auch weiterhin die Bestellung für ihre Schwarzwälderkirschtorte zum Geburtstag aufgeben, ohne dass die Verkäuferin kreischt: „Ich kenn Sie! Sie sind die tolle Sex-Kolumnistin!“
Wer jetzt schnell mehr von ihr lesen möchte, klickt auf die Links. Suzette Oh hat nämlich bereits aussagekräftige Bücher veröffentlicht, als da wären ihr „Pussy Diary“ und ihre erotische Phantasien in Bezug auf das Erben eines Hauses. Bzw. ein Hotel der Lust.
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