Jeden zweiten Mittwoch stellen wir Euch eine Frau vor, die ihr Leben umgekrempelt hat
oder mittendrin ist in der Veränderung
Heute: Jorinde Gessner
Haben Frauen das Kümmer-Gen? Jorinde Gessner hat sich lange Jahre zerrissen, zwischen der Sorge ums Kind und dem Druck, auch im Job besonders erfolgreich zu sein. Alles wollte sie perfekt machen – bis sie mit 50 gemerkt hat, wie für sie die ideale Kombi zwischen Beruf und Berufung aussieht. Heute engagiert sie sich in einem Social Network für Healthcare.
Name: Jorinde Gessner
Alter: 52 Jahre
Beruf: Beraterin in einer Werbeagentur
Wohnt in: Frankfurt am Main
Motto: If you want to be interesting, be interested
Was beschäftigt Dich zurzeit am meisten?
Ich finde es sehr spannend, wie Frauen in der Mitte des Lebens mit den Themen Gesundheit, Familie und Älterwerden umgehen. Wie lernen wir voneinander und was können wir tun, um den Austausch untereinander fördern zu können? In meiner Arbeit bei dem Start-Up Carecircle frage ich mich: Kann es ein soziales Netzwerk geben, das das Thema Gesundheit ganzheitlich abbildet, wo Daten sicher sind und ich mich hinwenden kann, wenn ich Fragen habe oder meine Erfahrungen weitergeben möchte.
Welchen Beruf wolltest Du als Kind ergreifen?
Ich wollte unbedingt Detektivromane schreiben.
Und wie lief es dann tatsächlich?
Nach der Schule habe ich in Bristol studiert und dort meinen „Bachelor of Arts” in German & Politics gemacht. Ich war sehr jung mit dem Studium fertig und wusste nicht, was ich machen wollte. Ich habe dann als Übersetzerin und Assistentin gearbeitet, einen Gewerbepark in Ostdeutschland vermarktet und in Frankreich Englisch unterrichtet, bis ich per Zufall in einer Werbeagentur gelandet bin. Diese Mischung aus Kreation und Marketing fand ich spannend und es wurde nie langweilig: Projekte, Kunden und Kolleg:innen wechselten ständig.
Klingt interessant. Was hat Dich dazu gebracht, das alles in Frage zu stellen?
Als im Freundeskreis eine gesundheitliche Krisensituation zum Auslöser dafür wurde, dass ein buntes Team aus aller Welt in seiner Freizeit eine Gesundheits-App entwickelte, war ich fasziniert. Ich war sofort dabei und habe mit 50 Jahren angefangen, mich ebenfalls bei Carecircle zu engagieren. Aufgrund meiner eigenen Erfahrung als Mutter eines behinderten Kindes weiß ich, wie frustrierend es sein kann, im Internet nach Antworten zu fahnden und nichts zu finden. Mein Sohn hat eine seltene Diagnose, und mein Mann und ich mussten in jeder Entwicklungsphase mühsam nach Informationen suchen. Erfahrungen von anderen Eltern in ähnlichen Situationen waren extrem hilfreich – aber es war schwer, diese Familien zu finden. Die kostenlose App, an der ich aktuell mitarbeite, bietet diese Möglichkeit der Vernetzung – und zwar nicht nur lokal. Dieses Gefühl, mit einer Gruppe Menschen gemeinsam ein Herzensprojekt zu realisieren, etwas wachsen zu sehen, das als kleine Idee gestartet ist, macht mich unglaublich zufrieden.
Dein größter Erfolg?
Ich habe mich intensiv für das Thema Inklusion in Frankfurt am Main engagiert und habe vielfältige Aktionen in meinem Stadtteil initiiert, um auf das Thema aufmerksam zu machen. Mein Wunsch war es immer, die Vorteile für alle hervorzuheben. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir im Leben nur wachsen können, wenn wir unterschiedliche Menschen kennenlernen und dies als Normalität empfinden. Dafür wurde ich 2016 sogar mit der „Frankfurter Bürgermedaille“ ausgezeichnet.
Tatsächlich hätte ich niemals gedacht, dass man aus einer schlimmen und ungewissen Situation – damit meine ich die vielen Sorgen und die Ungewissheit bezüglich der Gesundheit meines Sohnes – so viel Positives schöpfen kann. Ich hätte mich wahrscheinlich nicht für die Inklusion eingesetzt, hätte vieles nicht erlebt, was mich zu der Frau und Mutter gemacht hat, die ich jetzt bin. Ich möchte hier nichts schönreden, denn es gibt immer noch traurige Momente und schwierige Alltagssituationen – aber ich habe gelernt, dass es fast immer Lösungen gibt. Dafür braucht es aber Zuversicht, Kreativität und ein gutes Netzwerk.
Wie empfindest Du Deine derzeitige Lebensphase?
Zwischen 40 und 50 war ich rückblickend oft ungeduldig und aggressiv, weil ich jobmäßig vieles aufholen wollte, was vorher wegen der Kinder einfach nicht möglich war. Ich hatte das Gefühl, besonders hart arbeiten zu müssen, um nicht „nur“ als Mutter wahrgenommen zu werden. Nachdem ich die gefürchtete 50 geschafft hatte, war ich dann plötzlich entspannter. Ich habe angefangen, mich nicht mehr so unter Druck zu setzen und mich so anzunehmen, wie ich nun mal bin. Und ich habe festgestellt, dass es mich glücklich macht, wenn ich andere Menschen vernetze und meine Hilfe etwas bewirken kann, egal ob beruflich oder privat.
Dein Rat an Dein früheres Ich?
Nicht immer brav Fleißpunkte sammeln; die bringen Dich nicht weiter. Vertrete öfter mal lautstark Deine Meinung und bezieh Stellung – das macht Dich stärker und glaubwürdiger.
Hast Du Vorbilder?
Na klar! Die britische bzw. schottische Politikerin Nicola Sturgeon, die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern und unsere Außenministerin Annalena Baerbock – alles Frauen, die einen neuen Politikstil verkörpern.
Wenn Du eine Superkraft wählen könntest, welche wäre das?
Ich wäre gern manchmal an zwei Orten gleichzeitig – in meiner Heimat Schottland und meinem aktuellen Wohnort Deutschland. Dann würde ich Teatime mit meinem Dad genießen und das Abendbrot mit meiner Familie in Frankfurt nicht verpassen.
Vielen Dank!
Das Interview führte Gerlind Hector, die Jorinde extrem um ihren bezaubernden Vornamen beneidet; das passende Grimm-Märchen ist aber auch zum Weinen schön.
Und genau wie Jorinde war sie als Kind ein großer Krimi-Fan. Ihre „Favourites“ waren der dicke Balduin Pfiff mit seinem Hund Pinsel von Wolfgang Ecke und der superlässige Luc Lucas von Jo Pestum – bis sie Agatha Christie und ihre grantige Miss Marple entdeckte. An sie kommt eben keine(r) ran!
Link zu Jorindes Engagement: carecircle.org
Wenn Du auch Lust hast, uns von Deiner Neuaufstellung zu erzählen und ein tolles Foto von Dir hast, schreib eine MAIL