Buchbesprechung „Gezwisterliebe“ von Ursula Ott
Mit professionellem und zugleich persönlichem Blick setzt sich die Journalistin Ursula Ott in ihrem neuen Buch mit Geschwistern auseinander.
Worum geht es?
Um Liebe und Hass, Streit und Versöhnung, zusammenhalten und den eigenen Weg finden. Um eine gemeinsame Vergangenheit mit so unterschiedlichen Erinnerungen. Um große Brüder, kleine Schwestern (und umgekehrt), Mamakinder, Papakinder. Geschwister, deren Eltern migriert sind. Um alte Rechnungen und neue Rangfolgen.
Was hat das mit mir zu tun?
Während ich an meinem Schreibtisch sitze und das Buch rezensiere, singt meine Schwester im Nebenzimmer laut vor sich hin. Sehr laut. Und ich bin hin- und hergerissen zwischen Bewunderung, dass sie ihre Lebensfreude so herauslässt, Neid, weil sie singen kann und ich nicht, und Genervt-Sein, weil sie so laut ist. Oder vielleicht auch, weil ich so anders bin als sie und vor allem nicht so laut. Nicht so lebenslustig. Und damit bin ich mittendrin in der Gezwisterliebe.
Wie geht die Autorin vor?
Ursula Ott geht es mit ihrem Buch darum, „aus den Verstrickungen der Kindheit herauszufinden“. Für die Recherche hat sie mit Menschen in Ost und West gesprochen, Familien besucht und mit Wissenschaftler*innen diskutiert. Sie schreibt über ihre eigenen Erfahrungen als jüngere Schwester, als Tochter und als Mutter und verbindet Persönliches mit Ergebnissen aus der empirischen Geschwisterforschung. Dadurch entsteht eine bildhafte Erzählung, die sich auf Fakten stützt und unterschiedliche Perspektiven zeigt. Für das Buch hat sich die Autorin und preisgekrönte Journalistin von einem erfahrenen Ehe-, Familien- und Lebensberater begleiten lassen und u.a. mit einer Mediatorin und ausgebildeten Anwältin für Familien- und Erbrecht gesprochen.
Warum sollte mich das interessieren?
Vermutlich sind wir Babyboomerinnen alle mit diesen merkwürdigen Glaubenssätzen und Rollenbeschreibungen aufgewachsen: Was sich liebt, das neckt sich. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. Nicht mit dir und nicht ohne dich. Blut ist dicker als Wasser. Die Älteste ist die Angepasste, die Jüngste die Rebellin. Geschwister passen aufeinander auf und tun sich nichts. Die eine ist die Hübsche, die andere die Kluge usw. usf. Mich hat das Buch gepackt (und es hat nur eine Nacht gedauert, es zu lesen), es hat mich zum Lachen gebracht, ich habe mich wiedererkannt und manchmal auch als „typisch große Schwester“ ertappt gefühlt. Es hat mich in meine familiäre Vergangenheit katapultiert und Erinnerungen an Familienereignisse und -geheimnisse geweckt. Und ich habe mich das ein oder andere Mal beim Lesen gefragt: Wer wurde bei uns mehr geliebt, wer wurde vorgezogen, wer musste öfter zurückstecken (Spoiler: kommt drauf an).
Über die Autorin
Ursula Ott, Jahrgang 1963, leitet seit 2014 das Magazin „chrismon“. Sie hat als Autorin für Radio, TV und mehrere Magazine gearbeitet, war Kolumnistin und Gerichtsreporterin. Für ihre Arbeiten hat sie mehrere Auszeichnungen und Preise bekommen. Bisher hat sie mehr als zehn Sachbücher über Familie, Kinder und Gesellschaft veröffentlicht. Sie hat eine Schwester. Website der Autorin: www.ursulaott.de
Kostprobe
Typisch Geschwister: Sie schwanken ständig zwischen Liebe und Streit, sind mal Komplizen und mal Konkurrenten. So gesehen ist die Geschwisterbeziehung ein ideales Trainingsfeld fürs spätere Leben. Wer mit Geschwistern aufgewachsen ist, hat gelernt, um seine Rechte zu kämpfen, Bündnisse zu schließen und Kompromisse auszuhandeln. Hat gelernt: Es gibt auch andere Bedürfnisse als meine. Und ich muss teilen: Die Schokolade. Das Kinderzimmer. Die Liebe der Eltern. „Empathie und Sozialkompetenz“, so schreibt die Kindertherapeutin Inés Brock-Harder, lerne man am besten von Geschwistern. Was für eine großartige Schule des Lebens. Und sieht man nicht – so gibt Brock-Harder zu bedenken – an einer Gesellschaft wie der chinesischen, die jahrelang nur ein Kind erlaubte, welche Sozialkompetenzen fehlen, wenn Geschwister fehlen?
Ob es nun das Zimmer ist oder eher seelische Räume, die man immer bewohnt hat – es kann anstrengend sein, wenn man mit vierzig oder fünfzig immer noch darauf beharrt. Wenn man dem alten Vater das Handy erklärt, weil man immer der Checker war, mittlerweile aber längst die kleine Schwester die Lebenspraktische ist. Wenn man sich ewig im Nesthäkchenmodus befindet und zuhause alle Wäsche vor die Maschine wirft – dabei kann die Mutter die moderne Waschmaschine schon gar nicht mehr bedienen. Wenn man dem kleinen Bruder, der seinen Fünfzigsten feiert, am Abend vorher anruft und sagt: .Hast du an die Tischkarten gedacht?. Dabei managt der „Kleine“ inzwischen die Hauptabteilung Fortbildung einer großen Gewerkschaft. Wenn es gut geht, kann man über solche Dinge gemeinsam herzlich lachen. Es hat etwas Komisches, wenn man seine älteren oder jüngeren Geschwister, die doch längst schon graue Haare und Falten haben, bei solchem Kinderkram ertappt.
Ursula Ott: Gezwisterliebe. Vom Streiten, Auseinandersetzen und Versöhnen. Penguin Verlag. 208 Seiten. 17 Euro. Bestellen könnt Ihr das Buch online bei unserer Buchhandlung des Herzens cohen + dobbernig in Hamburg. Ansonsten kauft es bei eurer lokalen Buchhandlung.
Besprechung: Katrin Schwahlen, @wechselwissen
Sie hat eine jüngere Schwester, mit der sie nach fast 50 Jahren wieder zusammenwohnt.