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Buchbesprechung: „Hässlichkeit“ von Moshtari Hilal

Worum geht es?
Um dichte Körperbehaarung geht es, braune Zähne, große Nasen: Moshtari Hilal hinterfragt Ideen von Hässlichkeit – den Antagonisten der Schönheit. In ihrem Buch begibt sie sich auf Spurensuche und schreibt über Beauty Salons in Kabul als Teil der US-Invasion, über Darwins Evolutionstheorieüber Kim Kardashian und berichtet von einem utopischen Ort im Schatten der Nase: „Bevor ich den Raum betrete, tritt meine Nase ein.“ Ihr Buch ist Essay, Gedichtzyklus und Bildband in einem: „Dieses Buch habe ich an erster Stelle als Künstlerin geschrieben“, so Moshtari Hilal.

Was kann es?
Hass und Hässlichkeit – beide Wörter teilen sich die Wortherkunft. Und nicht nur das verbindet sie. Die Künstlerin Moshtari Hilal setzt sich persönlich und verletzlich mit Hässlichkeit auseinander – denn sie begegnet ihr und uns ständig. Ihre Erkundungen, Analysen und Erinnerungen, Bildzitate und eigenen Zeichnungen führen tief nach innen, in dem jedes Selbstverständnis auf dem Prüfstand steht. Wer definiert, was schön ist? Warum fürchten sich Menschen vor dem Hässlichen? Und welche Machtstrukturen stecken hinter dem Hass auf die Hässlichkeit? 
Poetisch, berührend, intim und sehr politisch erzählt Hilal von den Normen, mit denen sich Menschen traktieren, schreibt über Selbstbilder und Selbstzweifel.

Warum sollte mich das interessieren?
Weil Hilals historische und politische Spurensuche und Analyse so klug und augenöffnend ist. Für alle! Es sollte uns alle interessieren! Nicht nur Betroffene, was in diesem Fall migrantisierte Menschen sind. Weil es wichtig ist (sich) zu hinterfragen, wann und wie sich ein Bild, eine Wahrnehmung formte. In uns. Und von Anderen. Und es wichtig ist, den Blick von der individuellen Wahrnehmung zu weiten und gesellschaftliche Normen und Zuschreibungen zu hinterfragen.

 Weil wir „Produkte“ unserer Sozialisation sind. Weil ich mich persönlich angesprochen fühle. Als BIPoC und mit denselben kulturellen Wurzeln wie die Autorin. Weil ich das Gefühl von Ablehnung, abwertende Bemerkungen, Ausgrenzung, sich wegen äußerer (und innerer) Merkmale nicht zugehörig zu fühlen, gut kenne. Und mich daran erinnere, wie das Gefühl nicht dazuzugehören, in Selbstabwertung und die Abwertung anderer umschlug.
Wer nicht der Norm entspricht, wird diskriminiert, gemobbt – zu alt, zu dick, zu haarig! Schönheit und Hässlichkeit sind universelle Konzepte und Konstrukte und funktionieren überall nach denselben Regeln. Hierarchien, Unterschiede, Macht, Diskriminierung und soziale Normen verweben sich. Warum fürchten wir das Hässliche? Lehnen es ab und geben Unmengen dafür aus, nicht hässlich zu sein? Die Konstruktion von Hässlichkeit reicht weit in kollektive und persönliche Vorstellungswelten. Und die Frage, wer Schönheit und Hässlichkeit definiert, ist eine der Macht.

Die Autorin:
Moshtari Hilal – Künstlerin, Kuratorin und Autorin – ist in Kabul geboren und lebt in Hamburg. Sie studierte Islamwissenschaft in Hamburg, Berlin und London mit Schwerpunkt auf Gender und Dekoloniale Studien und ist Mitgründerin des Kollektivs Afghan Visual Arts and History sowie des Rechercheprojekts „Curating Through Conflict with Care“. Gemeinsam mit dem Künstler Sinthujan Varatharajah hat sie 2012 den Begriff „Menschen mit Nazihintergrund“ in den sozialen Medien diskutiert. Die (unbequeme) Diskussion „schaffte“ es sogar in die Feuilletons. Die Idee dahinter war u.a., sich mit Themen mit möglichst niedriger Hemmschwelle und außerhalb von wissenschaftlichen Fachdiskursen zu nähern (monopol-magazin.de).


Leseprobe:
„In Wahrheit hassen wir, wenn wir Hässlichkeit an uns suchen, dann nicht unbedingt unsere fetten Oberschenkel, unsere dreckigen Finger, unseren behaarten Bauch oder unser schiefes Kreuz, sondern wir fürchten die kategorische Nähe zu denen, die unsere Gesellschaft hasst. Wir suchen die Distanz zu Unproduktivität, Armut, Animalität oder Unfähigkeit – zum Abseits unseres modernen Menschenbilds in all seinen Formen. Es gibt die Hässlichen nicht, weil sie hässlich sind, sondern weil sie Hässlichkeit durchleben. Hässlichkeit in diesem Sinne ist die auf Hass begründete Ausgrenzung, die als Wertung und Verhalten durch andere erlebt wird. Sie ist die Summe aller Effekte der Ablehnung durch unsere Sinne, aber vor allem durch das Sehen: Wir erleben sie im eigenen Selbstbild, aber auch in den Blicken der anderen, in unseren Blicken auf andere. Sie kann die Ablehnung des Selbst bedeuten, aber auch die Zurückweisung der anderen, und steht in beiden Richtungen in Zusammenhang mit der Zurückweisung von Abweichung, Variation und Unproduktivität – Ablehnung all dessen, was nicht der Ordnung und dem Wachstum der modernen Gesellschaft nützt oder sie gar stört.“

Moshtari Hilal: „Hässlichkeit“, 4. Auflage, 23 Euro, Hanser Literaturverlage
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moshtari.de


Moshtari Hilal auf Instagram


„Warum Schönheit grausam ist“: Sternstunde Philosophie mit Moshtari Hilal und der Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Lechner. Beide zeigen auf, wie viel Politik in den Schönheitsidealen steckt und fordern mehr Widerstand: „Wir sollten nicht die eigenen Körper kritisieren, sondern das System, die Säulen, auf denen die Schönheitsindustrie fußt – Kapitalismus, Patriarchat, Kolonialismus und Rassismus.“

Am 9. Februar 2024 liest Moshtari Hilal auf Kampnagel und am 22. Februar im Nachtasyl (als Gewinnerin des Sachbuch-Preis Hamburg) in Hamburg. Weitere Lesungen in Mannheim, Stuttgart, Lüneburg und am 9. März 2024 auf der lit.COLOGNE.

Rezension: Sohra Nadjibi

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