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Palais F*luxx

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Lesen oder Lassen?

Buchbesprechung: „Ein simpler Eingriff“

Worum geht es?
Es sind die Jahre, in denen man an die Macht und die Kraft eines Eingriffs am Hirn glaubt, der Lobotomie. Straffälligen, auffälligen Jugendlichen, aber auch besonders Frauen sollte so „geholfen“ werden, ihre „Störung“ loszuwerden. „Da ist etwas in Ihnen drin“, sagt der Professor im Roman, „und ich werde es zum Schlafen bringen. Es wird Sie nicht mehr belästigen.“

Meret ist eine junge Krankenschwester, die von dem diese Eingriffe durchführenden Arzt ausgewählt wird, die Patient*innen während der Operation, die im Wachzustand durchgeführt wird, durch Gespräche abzulenken und zu beschäftigen.

Das Buch erzählt von Merets Leben zwischen elterlichem Zuhause und Schwesternheim, wo sie sich in ihre Zimmergenossin Sarah verliebt – und den Folgen, als der Eingriff misslingt.

Was kann das Buch?
Nicht viel, außer schön zu erzählen. Das klingt nach wenig und womöglich fies, so ist es aber nicht gemeint. Nein, es reicht schlicht aus, dass die Geschichte, das Erleben Merets in einem ruhigen, schönen Ton erzählt wird. Dass wir eintauchen in das Erleben und die Gefühlswelt einer jungen Frau, die sich findet. Die sich zunächst einfügt und es nach und nach wagt, einen Zweifel groß werden zu lassen, der mehr infrage stellt als nur den Eingriff.  

Was hat das mit mir zu tun?
Ebenfalls nicht viel. Nicht mein Leben, nicht meine Zeit, nicht mein Kosmos. Und doch hat mich das Buch auf eine schöne und auf eine intensive Art berührt. Der Roman bringt nochmal die über viele Jahre und bis in die 1970er-Jahre auch in Deutschland gängige Praxis des Eingriffs am Hirn ins Gedächtnis. Den Umstand, dass es gerade Frauen waren, die so – meist durch ihre Familie bestimmt – gefügig, angepasst und still gemacht werden sollten. Es kitzelt den Ärger wach, über die seit Jahrhunderten andauernden systematischen Versuche, Frauen ruhig und schweigsam zu kriegen.

Schöner aber ist die Liebesgeschichte, das stille Begehren, das Meret Sarah gegenüber empfindet. Diese erste Liebe, die so wunderbar die Nähe einfängt und abbildet, die eine Beziehung zwischen Frauen ausmacht. Das hat mich sehr an mein eigenes, verkapseltes Verliebtsein in meine Freundin erinnert, das so viel stiller war als einem Mann gegenüber, weil die Wahrscheinlichkeit der Erwiderung so viel geringer schien. Das ist gut und zärtlich erzählt und mit einem Selbstverständnis, das wohltuend ist.

In der Besonderheit des Themas und der fein erzählten Liebe ist „Ein simpler Eingriff“ eine der schönsten Neuerscheinungen dieser ersten Jahreshälfte.

Kleine Meckerei?
Ja. Es mag erbsenzählerisch erscheinen, aber mir verdirbt es den Genuss, wenn Unstimmigkeiten auftauchen. So, wie es mich stören würde, wenn eine Schauspielerin bei Downton Abbey eine Apple Watch tragen würde, stört es mich, wenn die Worte nicht stimmen. Die Erzählung hat keinen Ort und keine Zeit. An den Schilderungen des Schwesternheims mit dem Telefon auf dem Gang und den Strumpfhaltern und eben der Praxis des Eingriffs könnte man die Handlung in den 50er-Jahren festmachen. Vielleicht auch eine Dekade davor oder danach. Zu dieser Zeit hat niemand das Wort „aufschlagen“ benutzt, um das Ankommen an einem Ort zu bezeichnen. Auch frage ich mich, wo es in dieser Zeit Hochhäuser gegeben hat, mit spiegelnder Fassade, zumal die Handlung nicht großstädtisch verortet ist.
Das ist blöd und ärgerlich und ich frage mich in Fällen wie diesen, was eigentlich die Eingangsvoraussetzung für Lektor*innen ist? Reicht es aus, dass man buchstabieren kann? Wo ist die Sorgfalt, wenn man sie braucht?!

Ist die Autorin interessant?
Schwer zu sagen, es gibt nicht viel Information über sie, außer den üblichen Eckdaten von Alter und Herkunft – Yael Inokai ist 1989 in Basel geboren, ihre Mutter ist Deutsche, ihr Vater Ungar, sie lebt in Berlin. Inokai hat Philosophie und Drehbuch studiert, schreibt hier und da und kann sich bereits über diverse Auszeichnungen freuen. So erhielt sie für ihren zweiten Roman „Mahlstrom“ einen der renommierten Schweizer Literaturpreise. Auch für „Ein simpler Eingriff“ gab es bereits Lorbeeren: den Anna Seghers-Preis.

Kostprobe:
Das war die Macht des Doktors: Er konnte meine Zeit jemand anderem in die Hände geben. Er konnte uns auch von Einheiten befreien, die üblicherweise unsere Tage in der Klinik takteten: sieben Minuten für die Koffer. Acht Minuten, um ein Bett frisch zu beziehen. Vierzehn Minuten für die Körperpflege. Gottgegebene Einheiten, anfangs von den älteren Schwestern gestoppt, die einen tickenden Zeiger in sich drin hatten. Bis er auch in mir selbst zu wachsen begann.

Yael Inokai: „Ein simpler Eingriff“, Hanser Berlin, 192 Seiten, 22 Euro. Hier bestellen

Rezension: Silke Burmester

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