Buchvorstellung: „Mit uns wäre es anders gewesen“
Worum geht es?
Es geht um Amélie und Vincent, die sich mit Anfang 20 in Paris begegnen. Sie verbringen den Abend zusammen, plaudern die Nacht durch und erleben beide das Gefühl einer Erweckung durch das Verständnis des anderen. Die Nähe, die Bezauberung. Und doch versäumen beide, den Schritt zu tun, der die Distanz nimmt. Die Hand des anderen zu greifen, den Arm um den anderen zu legen, ihn zu küssen.
Erst verstreicht der richtige Moment, dann verstreichen die Jahre. Immer wieder begegnen sie sich, immer wieder bleiben sie in den Leben, die sie sich eingerichtet haben und die sie jeweils unglücklich machen. Ob sie am Ende ein Paar werden oder nicht, wird hier nicht verraten.
Was kann es?
Einen aufregen. Nicht schlimm aufregen, aber so ein bisschen. Man hat das Gefühl, neben den beiden zu stehen, und hat das Bedürfnis, sie zu schubsen. Aufeinander drauf. Sie sollen sich endlich, endlich berühren und diese alberne Verhaltenheit überqueren, wie man eine Brücke überquert.
Das Buch bzw. die Autorin hat die Gabe, die Leser*in fühlen zu lassen, wie schwer es auszuhalten ist, wenn zwei Menschen den entscheidenden Schritt nicht tun. Wenn sie hinter ihrer Schüchternheit, Erziehung, Selbstzweifel und unnötiger Bescheidenheit stehen bleiben wie hinter einer unsichtbaren Wand.
Es zeigt, wie sehr wir ein „Happy End“ gewohnt sind, wie sehr wir annehmen, Liebende müssten zueinanderfinden und wie wenig wir es aushalten können, wenn das vermeintliche Glücksverspechen durch die Liebe nicht eingelöst wird.
Was hat das mit mir zu tun?
„Mit uns wäre es anders gewesen“ wirft bei der Lesenden unwillkürlich die Frage auf, ob es eine solche, beinahe verhängnisvoll zu nennende Liebe auch im eigenen Leben gibt – und wenn, wie in meinem Fall, die Antwort „nein“ lautet, dann sinkt man beruhigt ins Kissen und denkt: „Die armen anderen!“.
Gleichfalls stellt man sich die Frage, ob es überhaupt stimmt, dass es anders gekommen wäre, also dass Amélie und Vincent glücklicher geworden wären, als sie es mit anderen zu sein vermochten. Oder ob „zwei passen – und dann wird alles gut“ nicht einer dieser Trugschlüsse ist, der sich um das Versprechen von Liebe rankt wie die Dornen um Dornröschens Schloss. Vielleicht wäre das Leben für Amélie und Vincent die Hölle geworden, wären sie damals oder in den Jahren danach, als das Leben noch vor ihnen lag, zusammengekommen. Vielleicht hätten sie sich das Leben gegenseitig schwer gemacht. Sich gezankt und gestritten, geschlagen und in den Alkoholismus getrieben. Vielleicht ist diese romantische Verklärung „mit uns wäre es ganz anders gekommen“ ein großer Blödsinn, der auch beim Betrachten der eigenen nicht erfüllten Liebe hilfreich ist. Auch ich habe noch Jahre der einen großen unerfüllten Liebe nachgetrauert und in schwachen Stunden gedacht, mit ihm wäre alles anders gekommen. Ist es aber nicht. Der Typ war ein Tropf. Da wäre nichts „anders“ gewesen. Außer beschissen.
Was gibt es über die Autorin zu sagen?
Éliette Abécassis, 1969 in Straßburg geboren, wuchs in den privilegierten Verhältnissen einer jüdischen Akademikerfamilie auf, besuchte eine Elite-Hochschule und ist heute Professorin für Philosophie. Ihr 1996 veröffentlichter Roman „Qumran“, für den sie zunächst keinen Verlag fand, wurde ein Bestseller und in 18 Sprachen übersetzt.
Wie ist es geschrieben?
Angenehm schlicht und auf den Punkt. Endlich mal ein Buch, dessen Autorin und/oder Übersetzerin nichts will, außer eine Geschichte zu erzählen. Hier wird weder sprachlich geschwurbelt, noch versucht, stilistisch Locken auf einer Glatze zu drehen. Éliette Abécassis bedient sich einer zeitlos schönen Sprache für ein zeitloses Thema.
Kostprobe
„Am 2. Juli 2006 begann alles mit der Liebe auf den ersten Blick.
Als Amélie ihn zum ersten Mal sah, fand sie ihn schön und vollkommen, selbst wenn er mit dem dünnen Haar, seinem erschöpften Gesichtsausdruck und der zerknitterten Haut nicht gerade zu den Superschönen zählte. Er war ruhig, zufrieden und ausgeglichen. Sie fand, er hatte was von einem weisen alten Mann, und dachte bei sich, dass er ihr etwas beizubringen habe, nicht ahnend, wir recht sie damit hatte. Er würde ihr etwas über sie und ihn beibringen. Und dann über sie alle.“
(Nein, es ist nicht Vincent gemeint.)
Eliette Abécassis: „Mit uns wäre es anders gewesen“, Arche Literatur Verlag, 18 Euro
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Rezension: Silke Burmester