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Palais F*luxx

Online-Magazin für Rausch, Revolte, Wechseljahre

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Ein Jahr

Von der Flagge zum Symbol: die ukrainischen Nationalfarben. Gold für den Weizen, Blau für den Himmel



Seit Monaten denke ich, der 24. Februar ist der traurigste Tag in meinem Leben. Dann denke ich, Silke, das ist Quatsch, es gibt doch noch andere traurige Ereignisse in deinem Leben, Ereignisse, die viel näher dran sind als der Krieg in der Ukraine. Todesfälle, wie der frühe Tod meiner Mutter. Und doch fühlt es sich so an. Vielleicht, weil diese Ereignisse verarbeitet sind und kaum mehr Bedeutung in meinem Erwachsenenleben haben. Vielleicht ist es passender zu sagen: Der 24. Februar ist der traurigste Tag meiner Gegenwart. Und er ist nicht nur deshalb so traurig, weil an diesem Tag ein Land von einem anderen angegriffen und überfallen wurde, sondern auch, weil es nach dem Jugoslawien-Krieg Anfang der 90er Jahre und dem nachhallenden Schock über das Versagen der europäischen Politik – der noch heute die Europapolitik prägt – so undenkbar schien, dass erneut ein Krieg in Europa stattfinden würde.

Nun ist der Angriff auf die Ukraine nicht das Ergebnis von Auseinandersetzungen, Ressentiments oder das zweier Staaten, die sich nicht einigen können, sondern er ist das Ergebnis der Großmachtfantasien eines kleinen Mannes. Vielleicht ist das das Erschütternde, das einen diesem Krieg so fassungslos gegenüberstehen lässt: dass das Leid, das Millionen von Menschen erleben, vor allem in der Ukraine, aber auch in Russland, bei den Müttern, die jetzt ihre Söhne, bei den Frauen, die ihre Männer und Brüder verlieren, auf einen einzigen Mann zurückgeht.

Wenn sich heute der Ausbruch des Krieges, der Überfall Russlands auf die Ukraine zum ersten Mal jährt, dann ist das Erschreckende aber auch festzustellen, wie sehr man sich an Krieg gewöhnen kann.

Diese Gewöhnung wird einem leicht gemacht. Dieser Krieg ist ein Krieg ohne Tote. Es ist ein Krieg, in dem von vorrückenden Truppen berichtet wird und es um die Frage geht, wer wie viele Panzer liefert, deren Kontingente hin- und hergeschoben werden, als spiele man Quartett. Es ist ein Krieg, von dem ausgebombte Häuser gezeigt werden und man Menschen, die keinen Strom mehr haben, auf der Straße ihre Möbel verfeuern sieht, aber es ist ein Krieg, bei dem es erstaunlich wenige Bilder von Verwundeten gibt, und erst recht nicht von Toten. Auch werden diese nur selten beziffert, und egal, welche Zahlen genannt werden, immer wird Kalkül hinter ihrer Höhe vermutet.

Während der Film „Im Westen nichts Neues“ für neun Oscars nominiert ist, weil er die Gräuel des Krieges so anschaulich darlegt, scheint der nebenan ohne Gräuel stattzufinden. Kaum ein Bild irgendwo. Selbst die Empörung über die Brutalität der Russen bleibt aus, die gezielt und nach Plan Ukrainerinnen vergewaltigen, wobei sie ihnen vorher noch die Hände brechen. Keine Stimmen, keine Hilfsorganisationen, die für diese Frauen laut werden, keine wahrnehmbare gynäkologische Hilfe, geschweige denn unkomplizierte Möglichkeiten, die Schwangerschaft abzubrechen. Im Übrigen werden auch Kinder und Männer vergewaltigt.

Es ist entsetzlich. Auch entsetzlich ist, dass man sich daran gewöhnen kann, so einen Krieg hinzunehmen, und dankbar ist, dass einem diese Bilder und Nachrichten erspart bleiben. Bekäme man sie vor Augen und an die Ohren, würde es sehr schwierig mit der eigenen Ohnmacht.

Jetzt mehren sich bei uns die Stimmen gegen die Flüchtlinge aus der Ukraine. Stimmen, die erfüllt sind von Ablehnung und Verachtung und Lügengeschichten. Schon wird darüber nachgedacht, wie man ihre Einreise verhindern, zumindest erschweren könne. Der Mann, der eine Union von Christen anführt, Friedrich Merz, spricht von „Sozialtourismus“.

Es ist ein Debakel und unendlich traurig. Putin scheint nicht vorzuhaben, seinen Angriff auf das Nachbarland alsbald zu beenden, niemand, der ihm das Messer in die Brust rammt. Es bleibt nur zu hoffen, dass er innerpolitisch gestürzt wird.

Was uns an diesem traurigen Tag bleibt, ist, aufmerksam den Menschen gegenüber zu sein, die ihr Land verlassen mussten und jetzt bei uns Schutz suchen. Ihnen unsere Hilfe anzubieten und zu gucken, wie wir unterstützen können.
Ach, und wieder einmal bleibt festzustellen, dass das Elend ein von männlicher Hand gemachtes ist. So schlicht, so einfach ist es am Ende. Ich will jetzt nicht sagen, „wie viel besser wäre es ohne sie“, denn eine Welt ohne Männer ist nicht vorstellbar. Aber wie viel besser wäre es, sie würden nicht so viel Unheil über die Welt bringen. Das lässt sich gut sagen.

Silke Burmester

 

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