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Palais F*luxx

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Das lange Leid

Erstarrte Blüte: Wohnung als Ausdruck der Duldsamkeit


Von Gabriele Bärtels


In der Nachkriegszeit waren unsere Mütter junge Frauen. Nicht alle fanden einen Mann, denn viele Soldaten waren im Krieg umgekommen. Wer einmal verheiratet war, der blieb es auch. Stellvertretend für die Leidensfähigkeit so mancher Ehefrau dieser Generation steht Erikas Geschichte

Erwin ist gestorben. Seine Frau weint nicht. Seit Jahren ersehnt sie seinen Tod. Manchmal hatte sie sich gewünscht, sie wäre in der Lage gewesen, sein Sterben zu beschleunigen. Es ist ein Gedankenmord geblieben. In der Wirklichkeit pflegte sie ihren Mann, bis es nicht mehr ging. Erwin wurde 96, seine Frau ist 81. Sie waren dreißig Jahre verheiratet.
Am Ende war der 150-Kilo-Greis in der engen Wohnung immer öfter umgefallen, hatte die Blumentöpfe mitgerissen, die Gardine. Sie hatte ihn gebeten, er möge auf dem Sofa sitzen bleiben, solange sie Besorgungen machte. Erwin winkte bloß ab. „Ich tue, was mir passt.“
Da stand er nur noch sehr selten auf dem Balkon unter den aufgespannten Sonnenschirm und wartete auf seine Frau, die vom Supermarkt kam und schwere Einkaufstüten schleppte. Er rief dann von oben: „Wo warst Du Nutte? Hast Du mit dem Friseur gevögelt?“

Erika wusste früh, dass sie Pianistin werden wollte

Von Beruf war Erwin Schlachtermeister gewesen. Erika war seine dritte Frau. Sie heiratete den Rentner mit 53, nachdem er sie über Monate dazu gedrängt hatte.
Erika wurde 1927 geboren. Ihre Mutter kam aus einer gebildeten Familie, sprach mehrere Sprachen, zeichnete und erzählte ihrer Tochter beim Spaziergang selbst ausgedachte Märchen. Der Vater, der mit amerikanischen Autos handelte, achtete auf Tischmanieren, verehrte seine Frau, und als Erika schon mit fünf erstaunlich gut auf dem Klavier zu spielen begann, bekam sie eine Musiklehrerin. Es war eine glückliche, harmonische Kindheit. „Wir machten Ausflüge mit unserem schwarzen Buick. Es stand früh fest, dass ich Pianistin werden wollte.“ Mit vierzehn gab sie bei festlichen Anlässen Privatkonzerte. Nach dem Abitur studierte sie einige Semester Musik.
Aber dann kam der Krieg, zerstörte das Klavier, die Musikhochschule, Zukunftspläne, den väterlichen Betrieb. „Wir hatten ja noch Glück. Die ganze Familie überlebte.“ Sie sitzt im Sessel, ohne sich anzulehnen, als sie das erzählt. Haltung, Disziplin, die Dinge zu Ende bringen, das hatte sie der Vater gelehrt.
Nach Kriegsende begann sie eine Lehre als Schneiderin. Nach kurzer Berufstätigkeit heiratete sie einen Arzt, zwanzig Jahre älter, ein feinsinniger, nachdenklicher Mann, der zu ihr sagte: „Lange werde ich nicht leben.“ Sie bekamen einen Sohn. Als der seinen vierten Geburtstag feierte, starb ihr Mann an seiner chronischen Krankheit.

So machte sich Erika als Schneiderin selbstständig. Neben dem kleinen Sohn hatte sie noch ihre Mutter zu versorgen, denn der Vater war verstorben. Sie mietete eine Wohnung, die mit 154 Quadratmeter groß genug für Familie und Schneiderwerkstatt war. Sogar ein Klavier fand Platz, aber Zeit zum Spielen hatte sie kaum mehr.
Oft rechnete sie im Kopf zusammen, ob die Einnahmen noch für die nächste Miete reichen würde. Leisten konnte sie sich wenig. Der Sohn entwickelte sich zu einem wilden Jungen, der auf Laternen kletterte, Schrottautos zu noch mehr Schrott zusammenfuhr, blutend heimkam. Ein einziges Mal bemerkte sie, dass ihr fünf Mark im Portemonnaie fehlten. „Junge“, sagte sie. „Ich wollte Milch und Brot einkaufen, das geht nun nicht mehr, denn ein böser Geist hat das Geld aus meinem Portemonnaie genommen. Ich kann nur hoffen, dass dieser böse Geist sich besinnt, und es zurücklegt.“ Am Abend war das Fünf-Mark-Stück wieder da. Nie wieder fehlte ihr Geld.
Über achtzehn Jahre baute sich die Schneiderin einen festen Kundenstamm auf. Von ihren Freundinnen hörte sie oft: „Du kannst doch nicht Dein Leben lang allein bleiben. Dein Sohn geht eines Tages auch aus dem Haus!“ Eine wohlmeinende Frau gestand ihr schließlich, ihre Telefonnummer an den Witwer Erwin weitergegeben zu haben. Erika fand das unverschämt.

Dieser Erwin hatte seine Fleischerei vor wenigen Jahren verkauft Er war ein Einzelkind gewesen, seine Mutter hatte ihm jeden Wunsch erfüllt. Zu diesem Zeitpunkt wusste sie noch nicht, dass er bereits zweimal verheiratet gewesen war. Beide Frauen lagen bereits auf dem Friedhof. Aus diesen Ehen stammten zwei Kinder. Beiden Gattinnen hatte er Verhütungsmittel strengstens verboten, die zweite hatte neun Abtreibungen überstanden.
Nun war er Witwer und konnte nicht alleine sein. Dreimal täglich rief er bei Erika an: Er habe nur Gutes von ihr gehört, sie sei eine tüchtige Frau. Ob sie sich nicht einmal treffen könnten? Erikas Sohn war inzwischen erwachsen und in eine Wohngemeinschaft gezogen. Um sich nicht einsam zu fühlen, hatte sich Erika ein Hündchen zugelegt, einen Pudel namens Charly.

Blumen für die Ewigkeit wenn frische nicht mehr kommen

Erika war 53, als sie zu Erwin zog. Freundinnen sagten, er sei ihre letzte Chance

Wochenlang gab sie vor, keine Zeit zu haben, doch weil Erwin hartnäckig blieb und wiederholt Blumensträuße schickte, verabredete sie sich schließlich mit ihm. Das Gespräch kam nur schwer in Gang. Erika war wenig begeistert von der ungelenken, groben Erscheinung ihres Verehrers. Erwin machte ihr Komplimente und sagte, dass es nicht natürlich sei, als Frau alleinzustehen, und was sie denn im Alter machen wolle, ihre Rente würde doch gar nicht reichen. Das war Erika bewusst. Sie sah selber, dass Erwin ihr letzter Ausweg war, wollte sie nicht ihrem Sohn auf der Tasche liegen oder zum Amt gehen müssen.
Zögernd willigte sie ein, mit Erwin in den Urlaub zu fahren, doch hinterher war sie nicht glücklicher als vorher. Ihre Freundinnen drängten: „Nimm ihn, er ist Deine letzte Chance.“
Also gab Erika mit 53 ihren Schneidersalon auf, kündigte die große Wohnung, verschenkte die überflüssigen Möbel, verkaufte das Klavier und zog zu Erwin in seine enge Zweizimmerwohnung mit Schrankwand, schweren Vorhängen, Sofa-Garnitur, Nippes und Plüschtieren. Sie heirateten standesamtlich und nüchtern.
Die Küche betrat Erwin nie. Er wünschte, nein, befahl, dass Erika morgens vor ihm ins Bad ging, damit sie das Frühstück schon zubereitet hatte, wenn er sich frischrasiert an den Esstisch setzte. Vor einer Reise schaute er zu, wie seine Frau die Koffer packte.

Als Erika erstmals mit seiner Familie und seinen Kindern zusammentraf, war sie über die zerstrittene Gesellschaft erschrocken. Der frischangetraute Gatte trank zu Mittag süßen Wein und torkelte, als er aufstand. Er machte zotige Bemerkungen, die der wohlerzogenen Erika in den Ohren schauderten. Vor ihren Augen flirtete er plump mit anderen Frauen.
Ihren Pudel brachte Erika mit in die Ehe. Es dauerte nur Wochen, da verkündete ihr Mann, der Vermieter habe ihn angesprochen, der Hund müsse weg. Schweren Herzens gab sie ihren Charly ins Tierheim und erfuhr erst viel später, dass der Vermieter nichts dergleichen befohlen hatte.
„Vielleicht kann ich Erwin einiges verzeihen“, spricht sie heute mit festem Kinn, „aber das nie!“

Vorsichtshalber hatte sie bei der Heirat ihren Geburtsnamen behalten

Erst nach und nach wurde ihr klar, dass der Rentner überhaupt nichts tat, außer im Fernsehen Fussball und Volksmusik zu gucken. Wollte Erika einmal ein seltenes Klavierkonzert anschauen, so begann er nach Minuten, laute Bemerkungen über die komische Nase des Pianisten zu machen. „Katzenjammermusik!“ war sein Kommentar.
Nach einem Jahr Ehe war Erika drauf und dran, den Mann zu verlassen. Schon bei der Heirat hatte sie vorsichtshalber ihren Geburtsnamen behalten und seinen nur als Zweitnamen angenommen. Sie machte sich keine Illusionen – dieser Mensch, nun Ende Sechzig, würde sich nicht mehr ändern.

Doch plötzlich wurde er, der im Leben nie krank gewesen war und sich vor Hospitälern fürchtete wie vor der Pest, ständig leichenblaß und bekam kaum noch Luft. Hinter seinem Rücken besprach sie die Symptome mit dem Hausarzt, der ihr dringend empfahl, ihn in die Klinik zu bringen. Dort wurde ihm ein Tumor aus der Lunge entfernt. Erika stieg nun täglich in den Bus, um ganze Nachmittage an seinem Krankenbett zu verbringen. Die Schwestern, die den Patienten schon zu gut kennengelernt hatten, schauten sie mitleidig an. Aber Erika war keine geduckte, unsichere Frau. Den Ärzten gegenüber bestand sie auf ausführliche Erklärungen zur Diagnose.
Der Tumor war gutartig, Erwin kam nach Hause, er war weinerlich und schwach. Ging seine Frau aus, so musste sie haarklein berichten, wo sie gewesen war, durfte ihre Verwandten nicht besuchen, „Wenn Du verreist, dann mit mir!“, und weil Erwin früh ins Bett ging, musste sie mit, obwohl sie eher ein Nachtmensch war.

„Mutti“, sagte ihr Sohn, der sie oft besuchen kam, „warum gehst Du nicht fort? Ich helfe Dir, das weißt Du.“
Aber Erika ging nun schon auf die Sechzig zu, und die große Wohnung gab es ja nicht mehr, den Pudel nicht, keine Schneiderwerkstatt, außerdem war in ihrer Generation eine Scheidung eine große Sache. Also versuchte sie, sich ganz in sich selbst zu verhüllen, so gut es ging, und die Beleidigungen ihres Mannes an sich abperlen zu lassen. Ihre Liebe verschwendete sie an Vögel. „Meine Vögelchen“, sagte sie weich, hängte im Winter den ganzen Balkon voller Futternetze, und war überzeugt, dass die Tierchen ohne sie nicht überleben würden.

Erinnerungsinszenierung als gäbe es etwas mit Freude zu erinnern

Den Rollwagen wollte er nicht benutzen. Er stützte sich lieber auf seine kleine Frau

Weil Erwin kräftige, gutbürgerliche Küche liebte, nahm seine Frau sichtlich zu. Sie nähte viel und schrieb ihren Verwandten Briefe, denn Erwin litt es nicht, wenn sie zu lange telefonierte. Sie solle auflegen, sagte er, sie stehle den Leuten doch die Zeit, zudem seien Ferngespräche teuer. Sein eheliches Recht nahm er in Anspruch, wann es ihm passte, sehr gerne Sonntagmorgen um Neun. Dann rollte er sich zu Erika herüber und wollte nach ihr greifen. Je älter sie wurde, desto häufiger sprang sie aus dem Bett in die Puschen und lief in die Küche. Und er rief hinterher, sie habe wohl ihren Sohn gefickt und jetzt keine Lust mehr auf ihn. Sie hatte nie Lust auf ihn gehabt. Er lieferte ihr dazu keinen Anlass. Blumen hatte er ihr nach der Hochzeit nie wieder geschenkt.

Eine Weile erwog Erika, sich dem Hausarzt anzuvertrauen, der sie öfter besorgt anschaute, und ihr dringend riet, sich eine Auszeit zu gönnen, anstatt dem nun schon 85-jährigen alles hinterherzutragen. Erwin, der die Wohnung nicht mehr verließ, eigentlich nur noch zwischen Schlafzimmer und Wohnzimmer hin und her pendelte, hatte sich nämlich angewöhnt, auf dem Sofa sitzend zu onanieren, bei offener Tür, er wischte sich nicht einmal sauber.
Doch sie brachte es nicht über sich, mit einem Mann, auch keinem Arzt, darüber zu reden, schlug einfach die Wohnzimmertür zu. Sie wurde porzellanblass, war ununterbrochen in Bewegung, löste Kreuzworträtsel in Rekordgeschwindigkeit und versorgte ihren Mann mechanisch. Erwin betrachtete sie nur noch als unangenehmes Riesenbaby, das mit seinem Gebrüll die Wohnung füllte.

Erika wurde siebzig und fünfundsiebig, ihr Mann neunzig und fünfundneunzig, grober, gebrechlicher und hemmungsloser.
„Hau doch ab, Drecksstück, Hure!“ brüllte er von morgens bis abends, dabei war sie seine einzige Bezugsperson, denn niemand aus seiner Familie hatte Lust, ihn zu besuchen.
Den Rollwagen, der ihm verordnet worden war, wollte er nicht benutzen, stützte sich lieber auf seine kleine Frau. Erika, die sonst würdevoll auftrat und nie klagte, fror und fror jetzt, schlief keine Nacht mehr durch und sprach erstmals von Überlastung. Der Hausarzt nahm ihre Hände und redete auf sie ein, den Mann in ein Pflegeheim zu geben, er sei doch längst dement. Sie weigerte sich noch zwei Jahre.

Im Pflegeheim sagten sie, sie hätten nie einen bösartigeren Menschen kennengelernt

Vor einigen Monaten hat sie es dann getan. Das Pflegeheim lag gleich um die Ecke, und sie hatte es sich vorab gründlich angesehen. Sie hoffte inständig, dass Erwins Aufenthalt dort nicht länger als ein halbes Jahr dauern würde, danach wäre alles Ersparte verbraucht.
Schon wenige Tage, nachdem Erwin sein Einzelzimmer dort bezogen hatte, sprach das Personal Erika offen an. Der Greis, der keinen Schritt mehr laufen konnte, pöbele und brülle unablässig. Nie hätten sie einen bösartigeren Menschen kennengelernt. Es sei wirklich nicht nötig, dass Erika täglich bei ihm säße, kein anderer Pflegefall würde so oft besucht. Sie solle sich erholen.
Doch Erika wollte die Sache anständig zu Ende bringen, zu der sie vor dreißig Jahren ihr Jawort gegeben hatte. Ihr war ja schon geholfen, seit Erwin aus der Wohnung war. Zum ersten Mal seit langer Zeit schlief die 81-Jährige gut. Sie blieb lange auf, schaute im Fernsehen, was ihr gefiel. Morgens wickelte sie sich in ihren Hausmantel, trank Tee, telefonierte, schrieb Briefe, schnitt Artikel aus Zeitungen. Nachmittags um zwei machte sie sich zum Pflegeheim auf und saß bis abends bei Erwin. Fütterte ihn, flößte ihm Getränke ein, ließ seine Beleidigungen an sich abtropfen, prüfte mit scharfem Blick die Abrechnungen des Heimes.

Im blühenden Mai begann Erwin, das Essen zu verweigern, magerte ab und verstummte fast.
Vor einer Woche ist er gestorben. Zwei Tage vor seinem Tod mühte er sich, noch ein paar Sätze hervorzubringen. Er dankte Erika, dass sie bei ihm geblieben war, und sprach überraschend klar: „Nett bin ich wohl nicht immer gewesen.“
Erika legte ihre Hand auf den Greisenarm und antwortete: „Es ist schon gut.“


Fotos: Gabriele Bärtels

Website Gabriele Bärtels

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