Buchbesprechung: „Männer sterben bei uns nicht“
Worum geht es?
Die Ich-Erzählerin, Luise, pendelt zwischen der Erzählung ihrer Erlebnisse und ihrer außergewöhnlichen Stellung als Kind und ihrem erwachsenen Bemühen, zu verstehen. Es ist das Bemühen, das familiäre Geflecht der weiblichen Verwandten zu entwirren, zu ordnen und die Wirkmacht der durch Abwesenheit anwesenden Männer in der Familie zu begreifen. Der Tod der übermächtigen Großmutter ist der Anlass für Luises Gedankenreise, für ihre Erinnerungen an die zwei toten Frauen, die sie als Kind am Seeufer im Garten ihrer Oma fand und die Frage, warum so gleichmütig auf das Verschwinden ihrer Schwester reagiert wurde. Es ist der Versuch, über die Vergangenheit die eigenartigen Figuren der Gegenwart zu begreifen und die eigene Verstrickung zu lösen.
Was kann das Buch?
Annika Reich erzählt aus einer Welt, die den meisten ihrer Leser*innen fremd sein wird. Die des Großbürgertums, vielleicht des Adels. Es geht nicht um die Welt der Reichen, wenn auch das im Übermaß vorhandene Geld ein elementarer Bestandteil des Lebensstils ist. Es geht um die Haltung, mit der das Geld ausgegeben wird, mit der sich gekleidet wird, das Frühstück eingenommen. Es geht um eine Art, das Leben zu gestalten, in der die Distanz das Distinktionsmerkmal ist, auch der eigenen Verortung in der Welt. Deutlich wird das in den Festivitäten, die die Großmutter immer wieder ausrichtet: Für diese Anlässe öffnet sie ihr Haus, lädt großzügig Gäste ein und lässt es an nichts fehlen. Weder am Champagner noch an einer Cocktail-Bar, noch an einer Band oder dem großzügigen Ausleuchten des Anwesens. Doch selbst diese Geste der Öffnung bleibt eine oberflächliche. Sie ist strengster Planung und Kontrolle unterworfen, nichts darf dem Zufall überlassen sein. Die Gäste werden mit einer Großzügigkeit konfrontiert, die die Großmutter bis ins Kleinste kontrolliert.
Von diesem anziehenden Widerspruch lebt auch Reichs Roman. Sie öffnet die Türen in diese besondere Welt, in der wir immer wieder von der Türschwelle aus in die Teakholz-getäfelten Räume gepflegter Abgründe und Geheimnisse blicken dürfen, auf dass die Neugier einen Sog entwickelt, der einen das Buch einsaugen lässt. Und so wie Reich ihre Protagonistinnen nicht vor unserem Blick schont, lässt sie uns in der Distanz. Immer bleiben wir als Leser*in an der Schwelle. Wir gehören nie ganz dazu, Geheimnisse werden für sich behalten, wir müssen uns unseren Teil denken, wo wir doch so gern die ganze Geschichte erführen.
Das ist ein wenig so, wie es sich in diesen Kreisen nicht schickt, beim Essen das Hühnerbein in die Hand zu nehmen, auch für Kinder nicht. Man muss es aushalten, dass, was sich nicht mit Messer und Gabel lösen lässt, am Knochen und somit auf dem Teller bleibt. Genauso muss man es als Leser*in aushalten, dass Reich, statt uns Erklärung aufzutischen, Teile der Familiengeschichte im Dunkeln lässt. Das ist ein wenig schade und verhilft dem Roman nicht zu mehr Glanz. Eher ist es eine winzige Enttäuschung einem wunderbaren Buch gegenüber.
Warum ist das Buch besonders?
Ganz ähnlich wie in dem legendären Spielfilm „Die Frauen“ von 1939, in dem Männer die Bodenplatte der Existenz bilden, ohne dass ein einziger Mann zu Wort kommt, wird hier von weiblichen Lebenszyklen erzählt. Kein Vater, kein Ehemann, kein Ober, kein Passant, nichts. Das ist nicht wirklich entscheidend, aber es ist eine Freude zu sehen, wie Annika Reich eine Welt erschafft, in der Männer einfach mal die Klappe halten. Ihre Meinung, ihre Kommentare interessieren nicht. Das vermittelt ein Gefühl von Nähe und Vertrautheit, das ungewöhnlich ist.
Es ist aber vor allem der Klang des Buches, der aus der behutsamen Wahl der Wörter entsteht, ihre feine Abstimmung, die den Roman so hervor- und abheben. Es ist ein Vergnügen, wie die Atmosphäre, die Figuren durch wenige Beschreibungen fühl- und erlebbar werden, ohne dass die Autorin für diesen Effekt die Hülsen- oder Adjektivkanone zünden müsste.
Ist etwas eigenartig?
Es ist eigenartig, dass das Buch als Kritik am Patriarchat verstanden wird. Annika Reich selbst sagt, hätte diese Szenerie, die sie beschreibt, eine Adresse, „sie hieße Patriarchat“. Nun ist es anmaßend, einer Autorin zu sagen, sie irre. Sie hat sich ja schließlich was gedacht. Aber ich kann es nicht nachvollziehen. Was Annika Reich beschreibt, ist das Soziotop matriarchaler Strukturen. Dass diese wahrscheinlich eine andere Ausprägung hätten, wären sie nicht auf der oben benannten Bodenplatte männlicher Dominanz entstanden, ist klar. Nichtsdestotrotz hätten ihre Figuren eine Wahl. Nicht zuletzt aufgrund ihrer materiellen und sozialen Stellung.
Über die Autorin
Annika Reich ist Schriftstellerin und Autorin und als solche Teil des feministischen Autorinnenkollektivs „10 nach 8“ von zeit.de. Sie ist außerdem Mitinitiatorin des Aktionsbündnisses „Wir machen das“ und „Weiter Schreiben“, das Geflüchteten aus Kriegs- und Krisengebieten eine Stimme gibt. Über ihr Engagement und auch über den Roman hat sie im März sehr eindrücklich bei Deutschlandfunk Kultur gesprochen. Unbedingt anhören!
Kostprobe:
„Das Schlafzimmer meiner Großmutter war tabu, und wahrscheinlich vermutete ich deswegen märchenhafte Dinge darin, Fabelwesen, Efeu und sprechende Wände. Meine Großmutter hatte nie ausdrücklich gesagt, dass wir diesen Raum nicht betreten durften, aber wir wagten es trotzdem nicht. Es war ihr Turm. Manchmal beobachtete ich sie spätabends, wenn es draußen schon dunkel und ihr Schlafzimmer in warmes Licht getaucht war. Ich drückte mich an einen der großen Baumstämme und sah ihr zu, wie sie auf und ab ging, eine erstaunlich schmale, kleine Silhouette, die sich hinter den schweren, mit Vögeln, Blumen und Blättern bestickten Seidenvorhängen wie ein Scherenschnitt abzeichnete.“
Annika Reich: „Männer sterben bei uns nicht“, Hanser Berlin, 208 Seiten, 23 Euro – Hier bestellen
Rezension: Silke Burmester