… von Annette Scharnberg aus Zürich
Als ich für ein halbes Jahr nach Zürich zog, mochte ich sie sofort: Die Dachterrassen in Schweizer Städten. Lichterketten, Hängematten, Liegestühle, Blumentöpfe, Windräder und Sonnenschirme. Dieser Wildwuchs und der Müssiggang wollen so gar nicht in die Hochburg der Banker passen. Über den Dächern mutiert das sonst sehr überschaubare und strenge Zürich zur bunten Metropole.
Weitere Oasen in der Zwinglistadt sind die sogenannten «Badis»: Freibäder direkt am Fluss oder See – meist kunstvoll aus Holz zusammengenagelte Bauten, von denen aus ich im Sommer bequem ins kühlende Nass springen kann. Es gibt Frauen-, Männer- und gemischte Badis, je nach Bedürfnis oder Lust. Manch eine Badi öffnet auch im Winter – dank eingebauter Sauna.
Meine Grossmutter Paula erzählte mir, dass es diese Bauten einst auch an der Alster in Hamburg gab. Im Hungerwinter 1946/47 fiel das Holz allerding den Öfen der Stadtbewohner zum Heizen zum Opfer.
Aus den geplanten sechs Monaten Zürich wurden mehr als zwanzig Jahre. Was mich hier hält sind weniger die Dachterrassen oder die «Badis», als vielmehr meine zwei Töchter, die hier Zuhause sind. Wer weiss, vielleicht komme ich trotzdem irgendwann einmal zurück an die Alster. Ich könnte dort Bademeisterin werden.
Annette Scharnberg, 49, arbeitet als Journalistin beim Schweizer Radio und Fernsehen SRF. Sie fährt viel zu selten nach Hause in den Norden. Oft kommt irgendetwas dazwischen. Zuletzt war es Corona.