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Palais F*luxx

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Lesen oder Lassen

Buchbesprechung: „What Women Want“



Worum geht es?
Maxine Mei-Fung Chung erzählt die Geschichten von sieben Frauen, die in ihre Psychotherapeutische Praxis in London kommen und um Hilfe bitten. Natürlich unter Zustimmung und veränderten Namen. Die Sorgen und Nöte der Frauen sind, wie das Leben selber, komplex – wie schon der Untertitel verrät: „Sieben Geschichten über Begehren, Macht und Liebe“. Die sehr unterschiedlichen Geschichten, Lebensbrüche -und wege beschreibt die Autorin eindringlich und sensibel.

Was kann es?
Das Buch weitet den Blick. Mental Health ist zwar schon länger kein Tabuthema mehr, Social Media ist voll von Accounts renommierter Psycholog:innen und psychologischen Institutionen. Nach der Lektüre des Buches wird doch klarer: Hinter jeder Statistik stecken Menschen mit realen Nöten, mit problematischen Lebensereignissen. Vielleicht nimmt Chungs Buch der ein oder anderen auch die Angst, den Schritt in eine Therapie zu wagen, ermutigt dazu. Agatha etwa, eine von Maxine Mei-Fung Chungs Patientinnen, ist 67 Jahre alt. Wir sehen an ihr: Wir wissen gar nichts von den Menschen, denen wir oft voreingenommen begegnen, bis wir Fragen stellen, Zuhören und echtes Interesse entgegenbringen.

Warum sollte mich das interessieren?
Ich habe langjährige Therapieerfahrung – als Patientin. Die Perspektive der Therapeutin, ihre Innenansichten und ihr Mitgefühl auf diese Weise zu erfahren, ist interessant und bewegend. Sie/ihn als „Mensch“ mit Emotionen, Erfahrungen, Nöten und Schmerzen wahrzunehmen, als jemanden mit inneren Konflikten, ist eine ungewöhnliche Perspektive. Maxine Mei-Fung Chung ist eine hingebungsvolle und sehr menschliche Therapeutin, das erfährt man/frau bei der Lektüre. Abseits von Statistiken, Frage- und Testbögen blickt sie in das Innere der Frauen, die vor ihr sitzen.
Begehren – wobei hier nicht nur das körperliche gemeint ist –, Macht und Liebe werden in jeder der (Lebens)Geschichten verhandelt. Und aus jeder einzelnen kann ich etwas rausziehen, finde Teile von mir wieder, fühle Trost, Verständnis, Sichtbarkeit – (genau wie in der Palais F*luxx-Community). Das geht weit über individuelle Nöte hinaus. Struktureller Rassismus, Misogynie, Kinderwunsch, der Selbstmord des eigenen Kindes. Es wird deutlich wie komplex und differenziert die Ausbildung zur Psychotherapeutin sein sollte. Denn es ist eine andere Form von Verstehen und Mitgefühl, die Maxine Mei-Fung Chung – als POC, die eigene schmerzhafte Rassismus-Erfahrungen gemacht hat – ihrer schwarzen Patientin, die den Rassismus ihres weißen Vaters internalisiert hat und dazu strukturellen Rassismus erfährt, entgegenbringt. Die Sprache ist manchmal ein wenig blumig. Aber das ist egal. Das Gefühl, die Verbundenheit und die Zuversicht nach der Lektüre ist das wert!

Die Autorin:
Maxine Mei-Fung Chung hat lange als Creative Director für Condé Nast, The Sunday Times und The Times gearbeitet. Seit mehr als 15 Jahren ist sie analytische Psychotherapeutin. Außerdem hält sie Vorträge am Londoner Bowlby Centre („We are an organisation committed to the development, promotion and practice of an attachment-based and relational approach to psychotherapy“) zu Gender, Sexualität, Trauma und Bindungstheorie. Im März 2021 erscheint ihr erster Roman „The Eighth Girl“ in UK.

Kostproben:
„Die therapeutische Begegnung ist in ihrer Essenz ein zwischenmenschliches Ereignis. Ein Moment der Intimität zwischen zwei Menschen, in dem einige der tiefgründigsten Fragen darüber untersucht werden, was es bedeutet, Mensch zu sein: Wer bin ich? Was will ich wirklich? Wer wird mich lieben? Bin ich liebenswert? Und kann ich diese Liebe erwidern? Halte ich an etwas fest, das ich loslassen muss? Wann habe ich die Wahl? Wie reagiere ich auf jemanden in einer Machtposition? Gibt es einen Gott? Was ist Zuhause? Was ist der Sinn des Lebens? Wie kann ich am besten einen Beitrag zu meiner Gemeinschaft leisten und dabei meine eigenen Interessen und Wünsche erfüllen? Wie geht das? Wird es wehtun? Werde ich jemals frei sein?
Und die Frage vonseiten der Therapeutin könnte lauten: Was wollen Sie? Und: Was brauchen Sie? Sind Sie in Sicherheit? Was passiert, wenn Sie innehalten? Was würden Sie anders machen, wenn niemand da wäre, um über Sie zu urteilen? Tun Sie genug dafür, sich selbst zu lieben? Wie können Sie in Verbindung gehen und gleichzeitig bei sich bleiben? An welche kleinen Gesten des Wohlwollens können Sie sich er- innern? Wie schmeckt Verlangen, wie sieht es aus, wie fühlt es sich an? Was würde sich für Sie selbstermächtigend anfühlen, in diesem Augenblick? Wie könnten Sie sich befreien? Wenn nicht jetzt, wann dann?
[…]
Worte sind keine Ereignisse. Sie repräsentieren Ereignisse. Wenn man immer wieder zulässt, dass ein Wort Entscheidungen im Leben beeinflusst und Angst auslöst, fühlt man sich wie in einer Zeitschleife, in der sich die Vergangenheit ständig wieder holt und man immer wieder mit der Ursprungswunde konfrontiert wird.
[…]
Und wir reden auch über das andere Ende des Kontinuums, die permanente Beschäftigung mit der Vergangenheit. Dort lauert die Depression.
[…]
Ich artikuliere einen Gedanken: „Depression ist der Ausdruck von unbewältigtem Verlust.“
[…]
Plötzlich bin ich hellwach für die problematischen Themen. Meine Absichten sind klar und zielgerichtet. Ich konzentriere mich auf den psychoanalytischen Rahmen und die Frage, inwiefern die Berührung mit Tias rassistischem Trauma mich mit meinem eigenen Weg im Rassismusdiskurs in Berührung bringt, ein Fall von sekundärer Traumatisierung. Ich habe die emotionalen und physischen Auswirkungen des von Generation zu Generation weitergegebenen Traumas vor Augen. Ich spüre, dass mein Wunsch sich vertieft, mich und andere zu ermutigen, eine bessere Welt zu erschaffen, Schritt für Schritt. Es gibt keinen anderen Weg als den Weg nach vorn.“

Maxine Mei-Fung Chung: What Women Want, Übersetzung von Sabine Längsfeld, 368 Seiten, 18 €, Rowohlt
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Rezension: Sohra Nadjibi

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