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Palais F*luxx

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»Years and Years«: An oder Aus?

Fünf Gründe, warum die britische Serie sehenswert ist.

Darum geht es:

Im Jahr 2019 ist die Welt der britischen Familie Lyons noch halbwegs in Ordnung. Doch dann gerät die Welt der Familienmitglieder und der Gesellschaft ins Wanken – eine provokante Unternehmerin drängt in die Politik der Insel. Die Gesellschaft, die Weltpolitik und das Zusammenleben der Familie verändert sich drastisch – wie, das erzählt die sechsteilige Serie über einen Zeitraum von 15 Jahren.

Die Großfamilie Lyons beim gemeinsamen Essen. Foto: ©ZDF/ Matt Squire
  • Die Familie

Die Serie zeigt Charaktere, die an unsere Familienmitglieder, Nachbarn und Mitmenschen erinnern. Wir können uns daran reiben, es ins Lächerliche ziehen und auch davor ängstigen. Die Geschichte wird immer düsterer – dank der Familie Lyons bleibt sie jedoch menschlich und nahbar. Allen voran die knurrige Gran. Sie lebt allein in einem baufälligen, großen Haus und möchte ihre verstorbene Tochter, die Mutter der vier Lyons-Kinder, so gut es geht ersetzen und den Kindern Halt geben.

Der älteste der Lyons-Enkel: Stephen, ein gewöhnlicher, netter Banker, verheiratet mit Celeste. Sie, die stolze Chefbuchhalterin, ist der Meinung, alles im Griff zu haben, auch ihre beiden Töchter. Seine Schwester Edith, die Aktivistin, die Weltretterin, die nie zu Hause ist. Erst nach einer Katastrophe kehrt sie angegriffen nach England zurück. Daniel, ach Daniel. Der Sohn, Bruder, Onkel, Partner, den sich jede von uns wünscht. Und die jüngste Tochter, Rosie. Sie leidet an einer Wirbelsäulenkrankheit, ist aufmüpfig, laut und hat zwei Kinder von zwei Vätern.

Die Familie muss durch freudige Ereignisse, durch Tragödien und dies tut sie so, wie wir uns wohl in so einem Leben verhalten würden. Die Familienmitglieder sagen Dinge, die wir auch sagen würden, unter den Umständen des aufkeimenden Rechtspopulismus und der Wirtschaftskrise. Sie handeln so nachvollziehbar, das könnten wir in dieser Zukunft sein, die an unsere Gegenwart so extrem nah herankommt.

  • Die Geschichte

Beginnend im Jahr 2019 und mit der Geburt von Rosies zweitem Kind fallen wir kopfüber in die Ereignisse. Unternehmerin Vivian Rook erregt große Aufmerksamkeit durch eine provokante Aussage in einer Talkshow. Nun kennen sie alle. So verfährt sie weiter, provoziert, verletzt, beleidigt. Von da an springen wir in der ersten Folge im Schnelldurchlauf ins Jahr 2024. Dazwischen hat Vivian Rook auf kommunaler Ebene kandidiert, verloren, kündigt »Auferstehung« und somit ihre politischen Ambitionen an. China hat eine künstliche Insel gebaut, die USA vernichten diese Insel mit einer Atombombe, und die Ereignisse nehmen ihren üblen Lauf.

Während wir in den folgenden vier Episoden mit vor Schreck geweiteten Augen und Neugierde der so dicht erscheinenden Zukunftsrealität der Lyons, Großbritanniens und Europas zusehen, verlieren die Protagonist*innen mal die Nerven, mal ein*e Partner*in, mal die Contenance – doch nie ihre Wärme. Eine gekonnt gestrickte, beängstigende Geschichte. Gespickt mit Viren der heutigen Zeit – nicht nur Computerviren. Mit überzogenen Bezügen zur aktuellen Politik, der eigentlich nicht vorhandenen Flüchtlingspolitik und der sich wandelnden Arbeitswelt und Alltagstechnik (auch bekannt als Smarthome). Und mittendrin immer ein*e Lyon, sodass wir folgen und alles erleben wollen – trotz der dystopischen Zeichen.

  • Emma Thompson

Ich liebe sie, ja, ich bin Fangirl dieser Schauspielerin und ich dachte, ich könnte mir alles von ihr ansehen. Doch in dieser BBC-Serie bringt sie sich fast um meine Liebe. Sie, die grandiose Mimin, die selbst in US-Blockbustern wie »Men in Black« einfach hinreißend erscheint, bringt mich zum Brüllen. Sie spielt ein Arschloch. Eine Person, die ohne Wimpernzucken ihre Großmütter für Reichtum, Macht und Aufmerksamkeit verkaufen würde. Sie spielt die wahrlich im Galopp aufsteigende Politikerin und Unternehmerin so überzeugend, dass ich ihr beim Zuschauen regelmäßig eine reinhauen möchte. Wir folgen ihr durch ihre erste Niederlage, die sie 1A wegsteckt, sehen, wie sie aufrüstet, droht, beleidigt und fast ungehindert in die Downing Street zieht. Sie spielt diese korrupte, kalte und einsame Frau so, nun, schlimm getreu an noch lebenden Despoten. Ihr Gebaren auf Pressekonferenzen hat sie sich bestimmt in Übersee abgeguckt.

Vivienne Rook (Emma Thompson, M.) wird Premierministerin. Foto: ©ZDF/ Matt Squire
  • Die Vision

Die technischen Neuerungen, die schon angerissen in unserer Realität vorhanden sind, macht die Vision so nah, so echt, so vorstellbar.

In Nebensätzen wird klar, dass Papier überflüssig ist, Tastaturen und Mäuse sind Retro-Kram. 6 G-Netz ist für alle verfügbar, sofern es nicht zur Kritik an Viv Rook verwendet wird. Dann kann sie es blockieren. Gekonnt in die Geschichte der Lyons hineingewebt, lernen wir »Senior« kennen, den Nachfolger von Alexa, Google Home & Co.. Und der ersetzt wird. Denn »das Signal ist nun überall, in der Luft, in der Wand, in den Kabeln«. Die Menschen im Jahr 2029 reden einfach drauflos und es wird reagiert.

Wir begleiten Tochter Bethany auf ihrer Entwicklung zur transhumanen Person, ähnlich einer Cyborg. Von Folge eins an erfahren wir die Möglichkeiten der Daten-Implantation. Wir sehen, wie Bethany nur mit ihrer Hand telefoniert, mit ihren Augen ihre Umgebung fotografiert und die Bilder sogleich versenden kann – mit nur einem Fingerschnipp. Dank Bethanys Figur erfahren wir nicht nur die technischen Möglichkeiten, sondern auch die moralische Verwicklung. Denn wenn deine implantierte Technik dem Staat gehört, wem gehört dann der Mensch, dessen Körper die Speicherkarten beherbergt?

Dazu gibt es medizinische Neuerungen, die wieder Frieden schließen lassen mit dem zu schnell voranschreitenden Fortschritt. Lichtblicke in der Welt der endenden 2020er-Jahre.

  • Muriel »Gran« Deacon (gespielt von Anne Reid)

Sie ist der Fels in der Brandung. Sie ist der Klebstoff, der die Lyons zusammenhält. Die Großmutter erinnert sich gern an die Vergangenheit, also unsere Gegenwart. Trinkt gern mal ein Gläschen, steht allen mit Rat und Tat zur Seite und altert. Hofft auf eine bessere Zeit, klagt, jammert, ist ruppig. Das Leben hat ihr die Tochter genommen, deren vier Kinder und Kindeskinder sie nun beschützen möchte. Welch riesige Aufgabe, doch sie gibt nie auf. Egal, was die Zukunft bringen mag: Gran kommentiert es für uns, leidet und freut sich für uns und sie hält unseren Monolog in der sechsten Episode. Sie fasst die 10.636 vergangenen Tage seit dem 31.12.2019 in knapp fünf Minuten so treffend zusammen, es ist ergreifend. Denn sie appelliert an ihre Kinder, an uns: Macht, dass diese Veränderungen nicht unser Untergang werden. Beklagt nicht die schlimmen Umstände, sondern sucht die Möglichkeit zur Veränderung. Schaut und achtet auf eure Nächsten. Was bringt uns der Fortschritt, wenn der sich als Arschtritt entpuppen kann? (Dies ist nicht ihre Formulierung, sondern meine.)

Edith Lyons (Jessica Hynes, l.) und ihre Großmutter Muriel Deacon (Anne Reid, r.). Foto: ©ZDF/Matt Squire
  • Gibt es einen Haken?

Außer einer sehr pathetischen Schlussszene am Ende nur: Dass ich die Serie fast nicht ertragen habe. Stoppen musste, um Luft zu holen. Parallelen in meinem nahen Umfeld sah. Genervt war, weil es so treffend beschrieben und gespielt ist. Dass aufgezeigt wird, wie der Planet unter dem veränderten Klima leidet, Essen synthetisch wird, da natürliche Nahrung knapp geworden ist. Wie die Verluste und Schicksale der Lyons mich haben leiden lassen.

Eigentlich ist die Serie kaum zu empfehlen, denn wer möchte sich schon von der düsteren Zukunft unterhalten lassen? Doch es könnte bald wahr werden. Der Alltag der Lyons könnte unserer sein. Und das erzeugt den Sog, den diese Serie ausübt und am Abschalten hindert.

Years and Years – zu sehen in der ZDF-Mediathek

Serien-Empfehlung von Simone Glöckler

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