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Palais F*luxx

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»In Therapie« – An oder aus?

Vier Gründe, warum die französische Serie sehenswert ist

Darum geht es:

Ein Zimmer in Paris. In ihm empfängt der Psychoanalytiker Dr. Philippe Dayan (Frédéric Pierrot) seine Patient*innen. Es ist Spätherbst in der französischen Metropole. November, 2015. Am Montag nach den Terroranschlägen vom 13. November während eines Konzerts im französischen Musikclub Bataclan sitzt die junge Chirurgin Ariane (Mélanie Thierry) auf Dayans Couch und schildert ihre Erlebnisse im Krankenhaus nach dem Attentat. Sie ist eine von fünf Patient*innen, die Dayan nach dem Anschlag ebetreut.

Die Episoden sind nach Wochentagen gegliedert. Eine Folge entspricht einer Therapiesitzung mit einer Patientin oder einem Patienten und dauert circa 25 Minuten. Insgesamt gibt es 35 Folgen. So sind wir gewissermaßen sieben Wochen mit dabei und erleben die Entwicklung der Patient*innen und auch die des Therapeuten nach diesem kollektiven Schock hautnah mit.

Kleines Ensemble und doch die ganze Wucht der französischen Gesellschaft
Foto: ©arte.tv
  • Die Patient*innen

Identifikation ist es nicht, die uns gebannt das Geschehen verfolgen lässt. Identifikation fällt schwer angesichts der hier verhandelten Neurosen und verdrängten Traumata. Dennoch gibt es mehr als genug Anknüpfungspunkte, schließlich sind wir ja auch nicht „normal“, und mit einem Funken Empathie bleibt jede*r dran. Neben dem Leben der Patient*innen, in das wir von Sitzung zu Sitzung tiefer eintauchen, von dem wir Schicht um Schicht gemeinsam mit dem Therapeuten Dayan freilegen, in denen die Zuschauer*in immer wieder von unerwarteten Wendungen und Erkenntnissen überrascht wird, entsteht in der Vielfalt der Geschichtenein Panoptikum der französischen und damit auch der mitteleuropäischen Gesellschaft. Die junge, sehr gut ausgebildete Chirurgin, die den frühen Tod der Mutter nicht verarbeiten kann, der Polizist algerischer Herkunft, der ein Massaker an seiner Familie verdrängt, die Jugendliche, die aufgrund der elterlichen Vernachlässigung in den Leistungssport flüchtet, schließlich in eine sexuelle Abhängigkeit zum Trainer gerät und dann das Hipster-Paar, das den Sinn im Leben sucht und sich nicht sicher ist, ob dieser in der bürgerlichen Kleinfamilie zu finden ist.

Jede Folge ein kleines Kammerspiel. Wir bleiben fast ausschließlich an einem Ort und an eine zeitliche Struktur gebunden. Wir hören zu, verfolgen das Geschehen mit den Ohren, aber auch mit Blicken, das Ungesagte wird spürbar, die Gesten sind sanft oder fahrig. Handlung gibt es im Grunde  nicht, stattdessen Dialog oder auch Monolog. Und immer mehr richtet man sich im Therapeutenzimmer häuslich ein.

  • Der Therapeut

Ab der fünften Folge dann wird Dayan, der als alles durchschauender, ruhiger, verstehender Therapeut langsam zu nerven beginnt, selbst zum Patienten. Plötzlich, als gebrochene Figur wird es noch spannender.

Am Freitag gibt sich der Psychotherapeut menschlich, allzu menschlich: Er ist der Mann in der Midlife-Crisis, der sein Therapeutenzimmer nur verlässt, um bei seiner ehemaligen Mentorin Esther (Carole Bouquet) Hilfe zu suchen.

Schon bald muss er sich selbst eingestehen, wie gern er die Liebe der jungen Chirurgin ganz unprofessionell erwidern würde; wie ihn das Gähnen erfasst, wenn er den Schilderungen des Hipster-Paares lauscht und wie überfordert er sich gegenüber dem Polizisten oder auch der Jugendlichen fühlt. Was er aber tatsächlich gar nicht im Griff hat, ist sein eigenes, ganz privates Leben: Seine Frau Charlotte (Elsa Leboivre) schläft mit einem anderen Mann, seine Tochter hängt mit den falschen Freunden rum und sein Sohn hat massive Probleme in der Schule.

Ja, so stellt man sich das vor: Couch, Kissen, Psychiater hört bedächtig zu. Und, damit man ihn ernst nimmt: viele Bücher
Foto:©arte.tv
  • Elsa Lepoivre und Carole Bouquet

Elsa Lepoivre und Carole Bouquet sind die Leuchtenden dieser Serie und sie leuchten ganz famos: Stundenlang kann ich diesen Frauen beim Schauspiel zusehen. Sie sind die Figuren, mit denen ich gern auch einen Kaffee trinken gehen würde. Klar, neurosenfrei sind auch diese Ladies nicht. Dafür erhaben und weise.

Elsa Lepoivre spielt Charlotte Dayan, die Ehefrau des Therapeuten und Mutter seiner Kinder.

Sie ist die eigentliche Heldin in „In Therapie“. Sie hat es im Griff und wenn etwas für sie schwierig ist, kann sie dazu stehen und sucht nach Lösungen. Sie bleibt stets handlungsfähig. Obwohl als Nebenrolle in die Serie geschrieben, ist sie diejenige, die „Normalität“ in die Runde der Geplagten trägt. Und wird so zum Fels in der Brandung.

Ebenfalls ein Fels und eine Wiederentdeckung:  Carol Bouquet in der Rolle der Mentorin Esther, die Dayan für seine eigenen Nöte am Freitag aufsucht. Auch sie ist psychologisch gesehen nicht über alle Zweifel erhaben. Wie sie ihrem Berufskollegen und Klienten mit versteinerter Mimik zuhört,ist jedoch ein Genuss. Ihr manchmal mütterliches Lächeln schlägt stets und blitzschnell in leise Ironie um, wenn sich der Mann vor ihr in Selbstmitleid windet.

Bouquet, die bereits bei ihrem Schauspieldebüt in Luis Buñuels »Dieses obskure Objekt der Begierde« 1977 für Furore sorgte, überragt auch 44 Jahre später in der Rolle der weisen Therapeutin.

  • Das Erfolgsteam

Die Macher hinter “In Therapie“ sind Éric Toledano und Olivier Nakache. Gemeinsam haben sie u.a. das Drehbuch von „Ziemlich beste Freunde“ geschrieben und Regie geführt.

Den Filmemachern gelingt immer wieder die Balance zwischen Beobachtung und Dringlichkeit. Gesellschaftliche Bestandsaufnahmen stehen gleichberechtigt neben politischen und sozialen Aspekten, während Privatheit ebenfalls zur Debatte steht und somit politisch wird. Alles hat eine Berechtigung, vielleicht sogar Wirkung.

  • Gibt es einen Haken?

Nein, keinen wesentlichen. Ich habe mich gern mit der Grande Nation auf die Couch gelegt und ihren Neurosen gelauscht und zugeschaut. Die französische Bürgerlichkeit glänzt und bröckelt und ich muss mir schnell eingestehen, dass diese Sitzungen alles andere als „très français“ sind, dafür aber auch viel mit mir zu tun haben.

Eine Mischung aus soziologischer Neugier, frankophiler Liebe und europäischem Bewusstsein schwingt beim Schauen also mit. Die überwiegende Klugheit der Frauen, manchmal ihre Zerbrechlichkeit, oft ihre Stärken sind außerordentlich gut gezeichnet. Mit großartigen Schauspielerinnen. Mehr davon!

Ach ja – von wegen frankophil:  »In Therapie« ist eine Neuauflage. Das Original stammt aus Israel und wurde bereits von HBO gecovert. Frankreich bleibt dem Original, trotz lokaler Anbindung, überraschend treu in der Darstellung von Einzelschicksalen und der Dramaturgie. Die Geschichten, die sich in diesem Therapiezimmer abspielen, sind persönlich, durchgeknallt, sehenswert und eben doch universell.

»In Therapie« zu sehen in der arte Mediathek oder in der App.
Leider nur im Original oder synchronisiert. Eine Originalfassung mit Untertitel bietet Arte nicht an.

Serienempfehlung von Annette Scharnberg

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