Sylvia Heinleins Wochenjournal über die Stürme im Wasserglas des Alltags.
Diesmal: 21.21. Wunder
Meine Luder, es sind Dinge geschehen! Mein Bestimmer-Bruder, mein menschenscheuer, eigenbrötlerischer Vater und meine eigenwillige Persönlichkeit haben gemeinsam eine Woche in einem Appartement unter südlicher Sonne verbracht. Kurz zuvor hatte mein Bruder schnell noch die Übernahme eines Großkonzerns organisiert, nebenher einen Komposter gebaut und für unseren Flug die Plätze am Notausgang gebucht, Letzteres der Beinfreiheit wegen. Auf der Gangway kroch mein Vater uns gebückt voran, ich humpelte ihm nach. Was soll ich machen, das Knie ist keine 23 mehr!
Mein Bruder sagt, wo es langeht und mein Vater hat Wildsalami im Gepäck
„Jetzt macht kurz mal einen agilen Eindruck!“, befahl mein Bruder. „Sonst lassen die uns da nicht sitzen, wir sollen im Notfall ja alle retten.“ „Ich übernehme das“, winkte mein Vater ab, „die werden bei Problemen ohnehin mich als Ersten ansprechen, weil ich am kompetentesten aussehe.“ In der Tasche hatte er eine riesige, deutsche Wildsalami. „Ihr werdet noch froh sein,“ sagte er. „Schließlich kann man nie wissen, was die Spanier einem so unterjubeln wollen.“ Der Flug verlief friedlich, es lag dabei etwas Sonderbares in der Luft, das uns drei bannte – noch nie hatten wir mehr als zwei Stunden ohne Krakeele miteinander verbracht.
Bei der Ankunft stellte mein Bruder zügig wortlos klar, wie es ab nun laufen würde: Er schritt mit unseren Papieren voran, holte den Mietwagen, kannte den Weg und entschied über wichtige Fragen (erst auspacken oder gleich zum Supermarkt?), bevor sie überhaupt aufkamen. Mein Vater fügte sich friedlich, er hatte offensichtlich bei der Landung entschieden, sämtliche Familiengeschäfte seinem Sohn zu übergeben, der richtige Mann am richtigen Platz und so weiter. So etwas ist ja sehr üblich unter Männern. Ich überlegte, ein wenig darüber zu diskutieren, wer hier warum den Ton angeben sollte – aber manchmal geschehen wunderliche Dinge, das sollten wir nie vergessen: Unsere kleine Herde plumpste in ein Kaninchenloch und sog dort an der Wasserpfeife einer riesigen, dicken Raupe. Die kommenden Tage tollten wir mit Einhörnern auf Zuckerwatte-Wolken und schwangen pastellfarbene Seidentücher, die aus Sanftmut und Nachsicht gewirkt waren, und jeden Morgen besprenkelte die Sonne unsere Frühstückstellerchen mit Harmonie. Ich schwöre, genau so war es! Lasst uns also weiter an Wunder glauben, meine Luder, sie sind lang schon verzeichnet im großen Plan.*
Wo hatte ich die Abzweigung Richtung Reichtum verpasst?
Zuhause hatte ich Post von einer PR-Agentur. Ob ich nicht bitte an einer Pressereise in ein Fünf-Sterne-Resort auf den Malediven teilnehmen möchte? Anreise mit dem Wasserflugzeug, türkisblaue See, Tauchen mit freundlichen Haien, Spa-Behandlungen – na, das Übliche eben. Etwa eine Minute lang bedauerte ich es, nicht für den Millionärs-Boten oder den Reiche Leute-Kurier zu schreiben. Wann und warum genau hatte ich verpasst, den Abzweig zu nehmen, auf dem ich massig Schotter hätte schaufeln können? Dann stellte ich mir vor, ich sei eine reiche Unternehmerin und wache auf und muss loslegen mit all den Bediensteten und tausend Terminen. „Man muss sich entscheiden, ob man Fisch, Fleisch, Vogel oder ein Räucherfisch sein will“, heißt es in Downtown Abbey. Das ist absolut richtig und also legte ich mich ohne weitere Zweifel in mein Planschbecken – türkisblaues Wasser, meine Luder! – und es wurde noch eine tolle, leere, perfekte Stunde.
*„Sei klug und halte dich an Wunder. Sie sind lang schon verzeichnet im großen Plan. Jage die Ängste fort und die Angst vor den Ängsten.“ (Aus: „Rezept“ von Mascha Kaleko)