Buchbesprechung: „Altern“ von Elke Heidenreich
In ihrem Essay mäandert Elke Heidenreich durch die Weltgeschichte und
sammelt jede Menge Zitate über das Älterwerden, alt sein und das Ende des Lebens. Eins vorweg: „Altern heißt nicht: noch nicht tot sein.“
Worum geht es?
Um die Frage: Was macht das Alter mit mir? Werden wir mürrisch alt oder heiter? Leben wir in der Vergangenheit, weil da vielleicht alles besser war? Freuen wir uns noch, auf das, was kommt oder macht uns die Zukunft Angst? Oder sind wir ganz im Hier und Jetzt?
Was kann es?
Es bringt mich als Leserin dazu, den Blick zu wechseln, die Perspektive zu ändern. Und das schon gleich auf den ersten zwei Seiten. Sie habe ihr Leben in den Sand gesetzt, beginnt Heidenreich ihr Buch: geboren im Krieg, die Eltern nicht nett, sie selbst kein nettes Kind. Bei Pflegeeltern im Pfarrhaus aufgewachsen, Studium abgebrochen, Lungen-OP. Zwei Mal geschieden, Krebs. Beruflich die Lieblingssendung in den Sand gesetzt.
Das klingt tragisch und bemitleidenswert. Aber nur bis zur nächsten Seite. Denn dort beschreibt Heidenreich dasselbe Leben aus einem anderen Blickwinkel: Vom Krieg kaum etwas mitbekommen, liebende, wenn auch zu viel arbeitende Eltern, Bildung, Bücher und Klavierunterricht im Pfarrhaus. Schwere Krankheit überwunden, bis heute Freundschaften mit den Ex-Ehemännern, ein schönes Leben gehabt und gut alt geworden. Ein Leben, zwei Versionen. Auch so kann man seine Vergangenheit betrachten.
Warum ist das gut?
Wir, die 47+-Frauen, sind vielleicht die Generation, die noch ein bestimmtes Klischee von älteren und alten Menschen im Kopf hat: Silberlocken, Kittelschürze, beigefarbene Multifunktionsschuhe, kariertes Hemd in der Hose usw.
Elke Heidenreich räumt mit diesen Klischees auf und zeigt, wie groß die Unterschiede sind zwischen den Generationen: „Wir werden anders alt als unsere Eltern. Früher war man mit fünfzig abgearbeitet und alt. Heute sind viele Achtzigjährige geistig und körperlich noch fit und im täglichen Rennen.“
Machen wir uns mit der Autorin bewusst, welche Vorteile es hat, so alt zu sein, wie wir sind: Wir haben viele gute und glückliche Augenblicke gehabt. Für sie ist die Summe dieser Augenblicke das Glück ihres Lebens.
Warum sollte mich das interessieren?
Ich habe Elke Heidenreich in meiner Abizeit als Else Stratmann auf WDR 2 gehört und war hingerissen von der meinungsstarken Metzgersfrau und ihrem kritischen Blick auf die Welt. Schnodderig im Ton und unverstellt kritisch bis rabiat ist Elke Heidenreich über all die Jahre geblieben.
Eindringlich geht sie darauf ein, dass Alter eben nicht gleich Alter ist, dass alte Menschen keine homogene Gruppe sind und auch keine gemeinsamen Interessen haben müssen, sondern so vielfältig sind wie der Rest der Bevölkerung. „Wir nehmen noch teil am Leben und verunsichern damit oft unsere Umgebung, die vom Alter unter Umständen noch ganz andere Vorstellungen hat.“
Alter ist, auch das macht ihr Buch klar, eben nicht nur eine individuell biologische, sondern auch kulturelle Tatsache. Die Gesellschaft bestimmt, wann jemand alt ist, weist uns die Altersrolle zu und bestimmt, wer im Alter noch wertvoll oder schon nutzlos ist.
Aber Elke Heidenreich wäre nicht sie selbst, wenn sie diese Rollenzuweisung nicht hinterfragen würde. Sie ermutigt uns, Verantwortung fürs eigene Leben zu übernehmen, Haltung zu zeigen, Meinungen zu haben, Liebe, Zärtlichkeit und ja, auch Sex zu haben.
Sie ermuntert uns, weiter neugierig aufs Leben zu sein, auf das, was noch kommt. Oder in den Worten der 81-Jährigen: „Ich bin fest davon überzeugt, dass unser Bewusstsein, unser Denken unseren Alterungsprozess beeinflusst. Das Bewusstsein altert ja nicht, nur der Körper. Und wenn ich geistig beweglich bleibe, kann ich damit ganz gut fertigwerden.“
Wo hakt’s?
Viele Menschen, Frauen und Männer, haben sich seit Jahrhunderten oder noch länger Gedanken gemacht über das Älterwerden und das Altsein. Elke Heidenreich zitiert sie gefühlt alle, von Christine Lavant, Simone de Beauvoir und Marguerite Duras über Norberto Bobbio und Robert Frost bis Kierkegaard, Rilke und Benn und nicht zu vergessen Aristoteles und Seneca. Ja, Heidenreich kennt ihre literarischen Pappenheimer, aber für mich wären an dieser Stelle weniger Zitate mehr gewesen. Dann allerdings wäre es ein noch dünneres Buch geworden.
Und noch an einer anderen Stelle hat es für mich gehakt. Wenn die Autorin von „Überalterung“ spricht. Welche Schlüsse soll ich daraus ziehen? Sterben gehen, damit das Durchschnittsalter sinkt? Weil Alter doch etwas Schlechtes und nicht erstrebenswert ist?
Vielleicht reagiere ich so empfindlich, weil ich nach der gängigen Definition auch überaltert bin. Vielleicht aber auch, weil ich überzeugt bin, dass uns dieses Schubladendenken inklusive Abwertung älterer Menschen in keinster Weise weiterbringt. Übrigens: Wenn im Jahr 2050 mindestens ein Drittel der deutschen Bevölkerung über 60 ist, sind dann nicht doppelt so viele unter 60, also nicht alt? Und damit sind wir wieder bei Frau Heidenreich: „Alter ist nicht nur eine biologische, sondern auch eine kulturelle Tatsache.“
Kostprobe
„Ich hatte Glück, Chancen, Möglichkeiten, ich bin privilegiert und kann mir solche Gedankenspiele leisten. Sie sagen nichts allgemein Gültiges aus. Nicht unsere Jahre zählen, sondern unsere Lebensqualität, unsere soziale Stellung, unser Umfeld. Das Land, in dem wir leben und wie wir da leben … Ich bin das, was ich gelebt habe, und das, woran ich mich erinnere … Jetzt, im Alter, bin ich mit mir ausgesöhnt und möchte nicht mehr jemand anderes sein … Ich altere mit Neugier … Ich lache heute viel mehr und sehe schönen jungen Männern nach, die für mich nun unerreichbar sind … Man muss handeln und das neue Rollenfach »Altern« annehmen … Ich sehe rückblickend mein Leben als ein langes Theaterstück, ich kann mir die Inszenierung ins Gedächtnis rufen, nur der letzte Akt fehlt noch. Ich bin gespannt, was er bringt.“
Elke Heidenreich. Altern. Essay. ca. 112 Seiten, 20 Euro, Hanser Verlag; Elke Heidenreich auf Instagram: @dies_ist_elke_heidenreich
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Besprechung: Katrin Schwahlen, auf Instagram @wechselwissen