Die Autorin besucht das Konzert einer Freundin in einem Krankenhauscafé. Das schwarze Kleid der Sängerin erinnert sie an eine bizarre Geschichte.
Eine Erzählung von Regina Kramer
Isabelle kann singen. Manchmal nimmt sie Gesangsstunden und manchmal tritt sie bei Konzerten auf. Am Mittwoch hat sie mich eingeladen.
Nächste Woche finde es statt, sagte sie. Es wäre zwar bloß ein Konzert im Café eines Krankenhauses. Aber so könnte sie üben, Öffentlichkeit und so, verstehst du?
Ja, sicher.
Vermutlich wären die meisten Zuhörer bloß Patienten, und es wäre auch gar nichts Großartiges, aber sie würde sich sehr freuen, wenn ich käme.
Manchmal macht sich Isabelle wirklich klein. Einmal hatte sie mir eine Mail mit Anhang geschickt. Ich öffnete die Datei und hörte mit Bewunderung eine italienische Arie, die Isabelle mit ihrer klaren Sopranstimme sang.
„Ich komme gern“, sagte ich.
„Frag nach Haus 17“, sagte sie noch.
Eine Woche später stehe ich vor dem Krankenhaus. Das Krankenhaus besteht aus vielen einzelnen Häusern, inmitten eines Parks. Ich schaue etwas ratlos die Wegweiser an. Ich frage einen Pförtner nach Haus 17.
„Geradeaus, den letzten Weg rechts, dann kommt die Rettungsstelle und von da wieder geradeaus“, erklärt er mir.
Ich bedanke mich und gehe geradeaus und rechts und da kommt die Rettungsstelle, aber kein Haus 17.
Aus der Rettungsstelle kommt ein junger Mann in grüner Rettungsweste.
„Wissen Sie, wo das Haus 17 ist?“, frage ich ihn.
„Das ist doch abgerissen worden, letzte Woche“, sagt er. „Sehen Sie hier, die riesige Baugrube.“
Tatsächlich klafft ein sandiger Abgrund links von uns.
„Das kann nicht sein“, sage ich.“ In Haus 17 soll heute ein Konzert stattfinden“.
„Ach so?“, sagt er.
„Ja“, sage ich.
Er schaut mich an und dann in die Baugrube und dann geradeaus.
Wenn ich gerettet werden müsste, dann gerne von ihm, denke ich.
„Dann muss es das letzte Haus da hinten sein“, sagt er und hat recht.
Konzert im Café „Supergut“
Über dem Eingang steht „Haus 17“. Ich gehe hinein und höre jemanden auf einem Klavier klimpern. Ich hoffe, dass das nicht der Pianist des Konzertes ist.
Isabelle hatte gesagt, das Konzert finde im Café „Supergut“ statt. Rechts vom Eingang ist „Supergut“ – ein Raum mit einem Tresen und etwa 30 orangefarbenen Stühlen, die in Reihen aufgestellt sind. Noch ist niemand da, außer einer jungen Frau, die Klavier spielt. Sie trägt eine gelbe Baskenmütze auf braunen Locken.
„Findet hier das Konzert …“ fange ich meine Frage an.
„Ja, aber nicht mit mir, ich übe nur ein bisschen“, erklärt sie.
Das ist gut, dass sie übt, denke ich.
Ich setze mich in die dritte Reihe, in die Mitte ungefähr.
Die junge Frau mit der Baskenmütze hört auf zu spielen und geht. Dann kommt ein junger Mann und setzt sich an das Klavier. Auch er trägt eine Mütze, eine graue. Ich glaube, auch er übt. Ich meine, den Flohwalzer zu erkennen. Dann kommen andere Zuhörer.
Die einen machen einen ziemlich abwesenden Eindruck, die anderen sind enorm anwesend. Ich bin erleichtert, dass sich niemand direkt neben mich setzt. Ich weiß nicht, warum ich so fühle.
Ich schaue auf die Füße der ankommenden Zuhörer, niemand trägt Hausschuhe und niemand kommt im Bademantel. So hatte ich mir wohl Patienten als Publikum vorgestellt.
Die meisten Konzertinteressierten scheinen sich zu kennen. Manche sind sehr unentschlossen, wohin sie sich setzen sollen. Sie wechseln mehrfach die Plätze. Zwei Stühle neben mir setzt sich ein sehr schöner und sehr zarter und sehr traurig schauender Mann hin. Ich habe selten so schwarze Haare gesehen. Er trägt sie in einem Pferdeschwanz gebunden.
Singen hört sich gut an, sieht aber nicht unbedingt so aus
Dann kommt eine Frau mit Krücken herein. Sie sagt: „Gleich geht es los.“ Sie lehnt ihre Krücken gegen den Tresen und setzt sich in die erste Reihe. Sie schaut sich um und grüßt mehrere Leute. Dann sagt sie wieder: „Gleich geht es los.“
Als der Pianist und die beiden Sängerinnen kommen, verlässt der junge Mann mit der grauen Mütze das Klavier. Der Pianist trägt eine graue Jeans und ein graues Hemd, die beiden Sängerinnen sind schwarz gekleidet. Isabelle hat leuchtenden, türkisfarbenen Lidschatten aufgetragen und an ihren Ohren baumeln große, türkisfarbene Ohrringe.
Die drei verbeugen sich, wir klatschen, Isabelle erkennt mich und lacht mich an. Der Pianist stellt die beiden Frauen und sich vor.
„Und bitte“, sagt er, „seien Sie nun so ruhig wie möglich und klatschen Sie nicht.“
„Gar nie?“, fragt jemand.
„Doch, zum Schluss“, sagt der Pianist und setzt sich an das Klavier.
Dann legen sie los. Singen hört sich gut an, sieht aber nicht unbedingt so aus. Isabelle und ihre Kollegin holen tief Luft, öffnen den Mund und bewegen den Kopf in theatralischer Gestik und Mimik. Die eine ist vom Schmerz verzerrt, die andere verzehrt sich vor Sehnsucht. Der Pianist haut nur in die Tasten. Was er fühlt, bleibt unsichtbar, vor dem Pianisten und vor mir sitzt nun die Frau mit der gelben Baskenmütze und den braunen Locken. An ihrem Kopf vorbei beobachte ich das Spektakel. Isabelle sieht aus, wie man sich – mit allen Vorurteilen – eine Sopranistin vorstellt: Sie lebt, was sie singt, die Augen flattern, der Busen wogt. Der Busen und der restliche Körper sind mehr als stattlich, das kommt vom Lithium, das sie nehmen muss. Ich schäme mich, dass ich mich nicht auf die Kunst konzentriere. Ich habe leider keinen blassen Schimmer von Musik. Die Zuhörerin, die mit den Krücken hereinkam, offensichtlich auch nicht. Sie winkt allen draußen vor der Glastür vorbeigehenden Ärzten oder Patienten zu und macht Handyfotos von den Sängerinnen.
Jetzt im „Supergut“, neulich im Sexclub
Die singen von der Mater Dolorosa in einem italienischen Latein aus dem 18. Jahrhundert. Ich weiß von Isabelle, dass sie Italianistik studiert hat. Ich werde sie später fragen, was der Inhalt des Liedes war. Jetzt singt sie gerade mit immer mehr Gefühl dem Höhepunkt entgegen. Ich schaue ihr schwarzes Kleid an, das fast ein Abendkleid sein könnte. Ich schaue ihren Lidschatten an und die Ohrringe. Sie wirft die dunklen Locken zurück, sie schließt die Augen. Und mir fällt ein, wie ich – wie ich vor ein paar Wochen mit Isabelle in einem Restaurant war. Da sagte sie, dass sie so müde sei. Weil sie nämlich gestern voll spät nach Hause gekommen wäre.
„Aha“, sage ich. „Und was hast du gemacht?“
„Bist du hart gesotten?“, fragte sie mich. Ich fand die Frage etwas seltsam und die Wortwahl noch seltsamer.
Ich behauptete: „Nichts Menschliches ist mir fremd.“
Und dann erzählte sie: Ein ehemaliger Liebhaber habe sie angerufen, ob sie ihn in den Sexclub begleiten würde. Da sei heute Pärchenabend, und er brauchte eine Frau als Begleitung. Isabelle sagte zu.
Ich kannte bis dahin keine Frau, die schon mal in einem Sexclub war. Oder die zugab, in einem Sexclub gewesen zu sein. Isabelle lachte viel bei ihrer Erzählung, ich wusste nicht genau, weshalb, so gut kennen wir uns nicht. Sie habe nur zugeschaut, sagte sie. Sie habe mit dem ehemaligen Freund an der Bar gesessen und gegenüber habe eine Frau in einer Art Schaukel gehangen, die Beine gespreizt und Männer hätten sie befingert. Einer der Männer sei auch zu ihr gekommen und habe sie gefragt, ob er sie auch da anfassen könne. Das habe sie abgelehnt.
Ich hörte zu, etwas war mir peinlich, etwas war mir widerlich und etwas machte mich neugierig. Ich wusste nicht, was ich fragen sollte. Schließlich fragte ich, was Isabelle denn angezogen habe an dem Abend?
Ein schwarzes Kleidchen, hatte sie gesagt. Ja, Kleidchen, hat sie gesagt. Und ab da, also nun im Café „Supergut“, vermischte sich in meiner Vorstellung die Sängerin mit der Sexclub-Besucherin, die eine singt vom Schmerz der Muttergottes, die andere guckt Paaren beim Sex zu, beide tragen Schwarz, beide atmen mit wogendem Busen.
Dann ist das Konzert zu Ende. Dann sagt ein Zuhörer: „Das war schöner als ein Konzert.“ Dann gehe ich aufs Klo. Da steht auf dem Schild: „WC Damen. Psychiatrische Abteilung.“