Daniela Falkenberg: »La terre est bleue comme une orange«
ein Gedicht von Paul Eluard
Ich glaube, ich war 14, so genau erinnere ich mich nicht mehr; war es die siebte oder die achte Klasse der Europaschule in Brüssel? Keine Ahnung …
Ich sehe aber noch deutlich die hässlichen Resopaltische und -stühle vor mir und Pubertierenden, diedringend den Kopf stützen müssen, in den das Wissen einfließen soll.
Ich höre Kichern und Flüstern, als der neue Französischlehrer die Klasse betritt. Und dies ist wohl der Moment, indem ich mein Haupt von den Armen löste und einen schmalen, leicht gebeugten, noch nicht sehr alten Mann vor der Tafel sah. Statt einer Begrüßung rezitiert er ein Gedicht von Jaques Prévert „Deux et deux font quatre …“ und während die Geräusche stärker werden, gerate ich wie in Trance und lasse mich von Worten davontragen, wie der Vogel in dem Gedicht, der davonfliegt.
Im meiner Erinnerung ist es eine einzige Stunde
Der Lehrer spricht weiter – aber ich höre keine Worte. Ich sehe nur sein kariertes Jackett, schon mit Kreide beschmiert, sein weißes, am Kragen offenes Hemd, eine sehr,
sehr dicke Brille, die die Augen verbirgt, und widerspenstiges, dickes, dunkles Haar.
Klar, eine Witzfigur! Ich träume mich wieder weg.
Sicherlich gab es mehr Stunden – aber in meiner Erinnerung ist es nur eine:
Monsieur Bochet schreibt den ersten Satz eines Gedichts von Paul Eluard an die Tafel: La terre est bleue comme une orange.
Dieses Bild werde ich nicht mehr vergessen: Es stellt mein Denken auf den Kopf. Ein Weltbild der Vernunft und der Wissenschaft, in denen die Dinge klar und eindeutig benannt werden, nüchtern, logisch.
Und jetzt: Poesie, lebendig logisch, unvernünftig klar und so viel schöner.
Die Erde, ein wunderschönes, saftiges Wesen, zu dem ich eine Liebesbeziehung habe, und nicht nur ein Planet mit diesen und jenen Koordinaten. Bunt statt schwarz-weiß.
Dass man das darf! Mit Worten spielen, Dinge vermischen und dadurch neue Dimensionen aufspüren.
Nach ein paar Wochen gab Monsieur Bochet auf
In diesem Moment war ich endgültig verloren für die sogenannten exakten Wissenschaften (obwohl ich doch den Mathe-Leistungskurs belegt hatte!), ich war hungrig nach vielschichtigen, mehrdeutigen, tiefsinnigen, verrückten, strahlend schönen und grausam elenden Wahrheiten.
Monsieur Bochet hatte trotzdem kein Glück mit uns: Nach ein paar Wochen gab er auf. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist, und es tut mir sehr leid, wie grässlich unsere Klasse ihn behandelt hat.
Die Lyrik, die er so freigiebig über uns ausgeschüttet hat, hat jedenfalls in mir Wurzeln gebildet; über viele Jahre genährt, ist sie ein Baum geworden, mit dem ich die Welt wahrnehme.
Daniela Falkenberg ist 62 Jahre alt, arbeitet als Rechtsanwältin und Mediatorin und hat den Gedichtband „Meine Füße sind meine Flügel“ veröffentlicht