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Palais F*luxx

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Happy Birthday!

Am 8. Januar 1973 ging die deutsche Sesamstraße auf Sendung. Eine Liebeserklärung plus medienkultureller Klugscheißerei von Silke Burmester

Krümelmonster forever – so sehen Vorbilder aus!
Bild: NDR/Sesame Workshop



Alles fing ganz harmlos an. Es war an einem Montag im Januar 1973. Zwei Zeichentrickfische erscheinen auf dem Fernsehbildschirm und spucken Buchstaben aus, die das Wort „Sesamstraße“ bilden. Dann schwimmt ein großer Fisch herbei, frisst, vom tiefen Ton eines Blasinstruments begleitet, die Buchstaben und stößt eine Luftblase aus, die sich zum Kreis formt und in der eine „1“ erscheint. Ab diesem Montag, dem 8. Januar, kommen die Fische zwei Mal täglich, einmal am Morgen um 9.30 Uhr und einmal abends um 18 Uhr, blubbern Buchstaben und Kreise aus und führen in eine Welt, in der Puppen das Sagen haben. Den Rahmen bildet eine Straßenkulisse, in der sich reale Menschen ebenso bewegen wie die Puppen, die in dieser Straße, der „Sesamstraße“, Zuhause sind. Das Freundes-Duo Ernie und Bert etwa, Oscar, das grüne Monster, das in der Mülltonne wohnt und Bibo, der gelbe Riesenvogel. Die Szenen mit ihnen werden von kleinen Filmen unterbrochen, Zeichentrick zumeist, in denen Kindern das Zählen oder Buchstaben vermittelt werden soll. Oft übernehmen diese Rolle auch jene Figuren, die ihr Erfinder Jim Henson „Muppets“ nennt und die so vielfältig sind wie ein Korallenriff. Sie kommen als zotteliges Monster, als Mensch, als Kuh oder flauschige Außerirdische, als Frosch oder Blume.

Und während wir Kinder am 8. Januar vor dem Fernseher sitzen und verfolgen, wie Sherlock Humbug das Rätsel um das verschwundene Fleischsalatbrot löst, lösen sich bei denen, die sich „erwachsen“ nennen, die Sicherungen. Auf die eine oder die andere Art. Die, die begeistert sind, loben das einzigartige pädagogische Konzept, die Kraft des Fernsehens als Bildungsmoment und die Möglichkeit, Kinder aller Schichten an Bildung teilhaben zu lassen und sehen eine neue Ära beginnen. Die anderen sehen durch „Slumkunde aus dem Kübel“ (BR-Redakteur Harald Hohenacker) das Land vor dem Abgrund.

„Das wichtigste Programm, das je ausgestrahlt wurde“ – und das die Bayern beben ließ

Als die deutsche Ausgabe an diesem Wintertag in den Dritten Programmen der sogenannten „Sendernordkette“ NDR, WDR, HR startet, haben die Amerikaner, die die „Sesame Street“ seit 1969 im Fernsehen zeigen, das Format bereits in 50 Länder verkauft. Es gilt als das erfolgreichste Fernsehprogramm der Welt, die Londoner Times nennt es das „wichtigste TV-Programm, das je ausgestrahlt wurde“. Beim Münchner Preis für Kinderfernsehen „Prix Jeunesse“, dem wichtigsten der Branche, ist die vom „Childrens Televison Workshop“ (CTW) produzierte Sendung bereits 1970 ausgezeichnet worden.
Die Idee, über das Fernsehen erste Bildungsansätze zu vermitteln, kam dem sozialdemokratischen Anspruch unter der Regierung Willy Brandts, Bildung von Herkunft und Einkommen zu lösen, gut zupass.

Die Amerikaner hatten ähnlich gedacht. Die „Sesame Street“ sollte vornehmlich die Einwandererkinder auf den Schuleintritt vorbereiten. Die Regierung von Präsident Nixon hatte bereits knapp 3 Milliarden US-Dollar in die Vorschulerziehung investiert, um Analphabetismus und Armut zu bekämpfen. 20 Millionen US-Dollar hatten sie in die Produktion der ersten 275 Fernsehfolgen investiert.

Das Schlussbild des Vorspannes 1973. Kinderfische sind konstruktiv, mürrischer Erwachsenenfisch hat nix Besseres zu tun, als im Anschluss die Buchstaben aufzufressen. Typisch. Bild: NDR“


Doch der Bildungsimport stößt nicht nur auf Begeisterung. Bereits seit August 1972 liefen die synchronisierten US-Folgen im deutschen Fernsehen, bevor im Januar 1973 die deutsche Fassung startete. Zeit genug, sich ein Bild zu machen und mit dem Start der für die deutschen Kinder bearbeiteten Fassung mit eigenem Vorspann und eigens produzierten Einspielfilmen auf dem Plan zu stehen und den Untergang des Abendlandes zu prognostizieren. Ebenso wie die Verstörung und Schädigung der Kinder, durch „48 kleine Spots in kürzester Zeit“.

Unterprivilegierte Kinder würden nicht folgen können, meinte Bayerns Oberpädagoge

Besonders laut sind die Bayern, die sich weigern, das Programm auszustrahlen – und das wohl bis zum heutigen Tag nicht getan haben. Sie werfen der Sendung auch in der deutschen Bearbeitung einen „Werbespot-ähnlichen Charakter“ vor, der darauf ausgelegt sei, den „kritischen Verstand zu schwächen oder ganz auszuschalten“, wie der Präsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes Wilhelm Ebert festzustellen glaubte, der von 1970 bis 1993 auch Vorsitzender des Fernsehausschusses des Rundfunkrats war. Für ihn war die Sesamstraße „ein domestizierendes Programm, das weder einen gewichtigen Beitrag zur emanzipatorischen noch zur integrativen Erziehung zu leisten vermag“. Was bliebe, sei ein „Drill- und Überredungsprogramm“, dem vor allem „unterprivilegierte und milieugeschädigte Kinder“ nicht folgen könnten. 

Die Russen sehen das ähnlich. Für sie ist die Sesamstraße der Versuch der Amerikaner, mit ihrem imperialistischen und kapitalistischen System die Welt zu unterwandern. Und auch die BBC stellt sich gegen die Macher und bemängelt u. a. ein auf Repetition angelegtes Lernkonzept.
Besonders erregt die Rahmenhandlung die meist männlichen Gemüter. Sie zeigt Puppen und Menschen, die in der Sesamstraße leben. Den gemütlichen Herrn Huber mit seinem Tante-Emma-Laden, den netten Bob und Susan und Gordon, zwei Schwarze. Die Straße fungiert als sozialer Platz. Auf ihr wird sich unterhalten und gespielt, gelacht, geweint und eingekauft. Mülltonnen stehen herum, in einer wohnt Oscar. Die Kritiker bemängeln, dass die Szenen „der kleinen N**** und Puerto Ricaner der Slums von New York“ („Der Spiegel“) nichts mit dem Alltag der Kinder in Deutschland zu tun hätten.

So sah – zumindest in der Vorstellung der bayerischen Jugendwächter – die Bedrohung des Abendlandes aus, die 1973 ins deutsche Wohnzimmer geschlichen kam: Ernie, Bert, zwei weitere Puppen, Gordon (Matt Robinson) und Susan (Loretta Long) Bild: NDR/Children_s Television Workshop

 Gordon und Susan statt Gerhard und Sabine

Tatsächlich starrten wir mit unseren fünf, sechs, oder ich mit meinen sieben Jahren gebannt auf das, was die Amerikaner uns vorführten: Menschen, die auf den Treppen ihrer Häuser sitzen, Kinder, die auf der Straße spielen und Erwachsene duzen, die schwarz sind und „Gordon“ heißen.
Dort, wo wir mit unseren Eltern wohnen, leben die Menschen in neu errichteten Bungalows, die Kinder spielen in den dazugehörigen Gärten, Mülltonnen haben ein eigenes Häuschen. Erwachsene heißen „Gerhard“ oder „Sabine“ und haben, sofern es nicht die eigenen Eltern sind, gesiezt zu werden. Schwarze, so sie denn auftauchen, guckt man mit großen Augen an und wenn sie einen nach dem Weg fragen, solle man besonders höflich sein, hatte die Mutter gesagt, denn sie hätten es nicht leicht.

Manamana. Um 18 Uhr wird alles stehen und liegen gelassen. „Der, die, das. Wieso, weshalb, warum. Wer nicht fragt, bleibt dumm.“ Wir wollen nicht dumm bleiben und gucken, wann immer es geht. Verfolgen, wie Schlemihl – ein aus heutiger Sicht indiskutabler Name für einen windigen, unehrlichen Verkäufer – Ernie ein unsichtbares Eis anzudrehen versucht und wie in bester Soulmanier das ABC gesungen wird. Mitbekommen, wie bei Ernie Zuhause ein Telefon klingelt und er einen Korb durchwühlt und alles Mögliche ans Ohr hält. Und Bert sagt: „Sei nicht so kindisch Ernie, Du weißt doch, wie ein Telefon aussieht!“ Ernie hält eine Banane ans Ohr. Das Klingeln verstummt. Ernie sagt: „Ja, der steht neben mir“ und reicht die Banane an Bert weiter, der verunsichert hineinzusprechen beginnt, während Ernie nun wirklich einen Telefonhörer in der Hand hält und sein Bedauern ausdrückt, dass Bert nicht zum Hörer kommen könne: „Der telefoniert gerade mit einer Banane.“

Mädchen sahen wie Jungs aus und Jungs spielten mit Puppen

Mussten wir Fernsehkinder der 70er-Jahre uns bis dahin überwiegend mit Sendungen abgeben, die wie „Flipper“ oder „Lassie“ nichts mit uns selbst zu tun hatten, so bildeten diese neuen Formate eine Welt ab, die unsere war und den Zeitgeist spiegelte: Kinder standen im Mittelpunkt. Kinder wurden angehalten, ihre Bedürfnisse zu artikulieren, Selbstbewusstsein zu gewinnen, sich einzubringen. Sie sollten sich einmischen und sagen, wenn ihnen etwas nicht passt. Sie sollten sich ausprobieren und nicht länger zimperlich und vorsichtig sein. Mädchen durften wie Jungs aussehen und Jungs mit Puppen spielen. Wir wurden angehalten, nicht alles hinzunehmen. Uns zu wehren. Und: Fantasie zu zeigen.

Kein Mensch meckerte, wenn wir uns mit Plakafarbe anmalten, wenn wir aus dem Keller das Altpapier hochschleppten, uns bis auf die Unterwäsche auszogen, die Zeitungen auseinanderrissen und „Zeitungsbäder“ nahmen. Wenn wir auf dem Garagendach standen und Vorbeigehenden „dumme Ziege“ oder „alter Arsch“ hinterherriefen. Wenn wir im Rumpelkeller nach Verwertbarem suchten und der Keller danach noch rumpeliger war. Im Gegenteil: Uns wurde die Plakafarbe bereitgestellt, mit der wir die Terrassentür bemalen sollten und wenn in der U-Bahn jemand schimpfte, weil wir uns so laut lachend um die Haltestange drehten, dann sagte die uns begleitende Mutter, dass das schon in Ordnung sei. Manamana.

Das wichtigste Paar im Leben vieler Kinder – nach den Eltern, natürlich – Ernie und Bert Bild: NDR/Children’s Television Workshop/Robert Fuhring“

Um das Geschehen näher an die deutschen Kinder heranzubringen, wurde ab 1977 das amerikanische „Schmuddel-Ghetto“ durch eine heimische Blitzblank-Kulisse ersetzt, in der Liselotte Pulver und Henning Venske das menschliche Gegenüber für die neuen Figuren Samson und Tiffy wurden. Die deutsche Biederkeit war geboren. Liselotte Pulver war nett und brav, der Riesenbär Samson behäbig und bräsig wie der neue Kanzler Helmut Kohl und der rosafarbene Tüllvogel Tiffy ein anstrengendes, altkluges Etwas. Einzig Henning Venske durchbrach die tumbe Glückseligkeit des Anstandsduos mit seiner ihm eigenen, oft seinem Ton innewohnenden, Distanz und Ironie. Er musste nach einer Staffel die Sendung verlassen. Schauspieler wie Uwe Friedrichsen, Manfred Krug und Horst Janson folgten, später dann Dirk Bach und Kolleginnen wie Anke Engelke und Annette Frier. Sogar Adele Neuhauser war 2008 dabei. Legendär sind spätere Folgen mit prominenten Gästen wie Lena Meyer-Landrut, Bjarne Mädel, Jan Delay.

Die Sesamstraße dieser Zeit wirkt mit Samson in seiner Bräsigkeit, seiner Einfalt und seinem „Ujujuj!“ als Gefühlsäußerung, mit dem gespreizten Zickenvogel Tiffy und Liselotte Pulver als gutem Muttchen wie die Kindersendung gewordene Antwort auf die kulturelle Einfalt der Kohl‘schen Regierungsjahre. „Ein bisschen Frieden“ statt „Manamana“.

Oscar und Bob mussten Samson und Manfred Krug weichen – die deutsche Biederkeit zog nicht nur in den deutschen Bundestag ein, nein, sie machte auch vor den Kindern nicht Halt Bild: NDR/Children_s Television Workshop


Und so, wie der Saumagen ins deutsche Bewusstsein einzieht, zieht die Vernunft in die Einspielfilme ein. Ging es zehn Jahre früher darum, Kindern Selbstbewusstsein zu vermitteln, ihre Position unter dem Motto des legendären Einspielers „Kinder sind auch mal dran“ in die Mitte der Gesellschaft zu verankern, wird unter Kohl das Private wieder privat. Die Frage, was man von Kindern lernen kann, verschwindet hinter der, was Kinder lernen sollen, um gut ins System zu passen.

Die Sesamstraße als Vorbild für das Palais

In der Sesamstraße sehen sie, wie man zum Arzt geht, wie man Briefmarken erwirbt und einen Wellensittich. Das Kinderleben beginnt sich an den Gegebenheiten zu orientieren, der von Pippi Langstrumpf entliehene Leitsatz „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt!“ wird zugunsten von „Ich mach mich, wie die Welt mich braucht!“ in den Hintergrund gedrängt. Die Fahne der Anarchie wird in dieser Zeit hauptsächlich noch von Ernie hochgehalten, der durch seine herausfordernden Einfälle, seine um die Ecke kommende Logik die Erwachsenen, für die Bert stellvertretend herhalten muss, an den Rand bringt. Aus Manamana wird Samsons „Mein Schnuffeltuch“. Man möchte seinen Rotz hineinheulen über die verlorene(n) Freu(n)de.

Ich habe dann irgendwann aufgehört, mich – auch aus soziokultureller Perspektive – für die Sesamstraße zu interessieren. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mein Sohn die Sendung geguckt hat, immerhin weiß ich, dass nach Jahren der eher langweiligen Figuren wie Buh und Rumpel in den 2000er-Jahren mit Wolle und Pferd wieder ein Humor in die Straße eingezogen ist, der mehr ist als nur schlicht.

Jetzt wird die Sesamstraße 50 Jahre alt, ich ein wenig älter. Ich habe schon vor Jahren rückwirkend Susanne Klickerklacker als eines der zentralen weiblichen Role Models für mich ausgemacht. Die Idee, sich mit den Worten vorzustellen „… ich bin ein furchtbar kluges Mädchen“, hat die Idee von einem Mädchenbild geöffnet, das es in meinem Umfeld nicht gab. Es ist die Idee, sich Raum zu nehmen. Sich zu behaupten.
Noch quirliger aber tanzt Ernie in mir herum. Dieser freche, lustige, witzige, anarchische Kerl im bunten Ringelpulli. Er steht für alles, was nötig ist, um als Erwachsene den Abstand zu sich nicht zu verlieren. Ich kann es nicht anders sagen, ich bin der Sesamstraße dankbar. Sehr. Wahrscheinlich hätte es ohne sie vieles nicht gegeben, was ich in meinem beruflichen Leben zu Wege gebracht habe und vielleicht gäbe es auch kein Palais F*luxx. So irre muss man erstmal sein, Frau*en ab 47 in dem abbilden zu wollen, was sie sind, und nicht, was sie sein sollen. Oder könnten. Oder müssten. Da braucht man Vorbilder. Manamana.

Eine Kiste Champagner gebührt der NDR-Redakteurin Birgit Ponten. Ihr ist es zu verdanken, dass die dumme Oberzicke „Tiffy“ die Straße räumen musste.

Die Recherchen zu diesem Text sind zehn Jahre alt. Damals entstand dieses Foto mit den Protagonisten und der Autorin Foto: privat


Am Sonntag, den 8. Januar 2023 veranstaltet der NDR in Kooperation mit dem Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe einen „Sesamstraßen Aktionstag“ und am 7. Mai eröffnet im Museum eine Ausstellung über die Kinder verderbende Sendung. Vielleicht zeigen sie auch so schöne Dinge wie den Spiegel Titel von 1973

Die Frage, ob die Sendung die Kinder verdirbt, wurde auf so hoher Ebene geführt, das war Spiegel-Titel relevant

Hier der legendäre Bananentelefon-Sketch, der Manamana-Song und der Originalvorspann von 1973

Der Klassiker „Hätt‘ ich Dich heut erwartet“ ist übrigens ein Swingtitel aus den 1930er Jahren. In der deutschen Version gesungen von Evelyn Künneke. Hier ist er.

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