Ihre Haut juckt und juckt und juckt. Seit Monaten. Regina Kramer dreht fast durch. Über den Alarm an der Außengrenze ihres Körpers
Seit dem 2. Weihnachtstag 2021. Seitdem kratze ich mich.
Zuerst im Nacken.
Was ist Weihnachten passiert, fragt eine. Jesulein, Familie, Tannenbaum. Sage ich.
Das ist keine sehr wissenschaftliche Begründung. Deshalb gehe ich am 3. Januar zu meiner Internistin. Sie sieht keinen Ausschlag, keine Pickel, keine Pusteln. Nur Rötungen, da, wo ich eben noch gekratzt habe. Sie meldet mich für eine Blutuntersuchung im Labor an.
Manchmal kann Jucken ein Hinweis auf eine Krankheit sein.
Mein Blut sagt, als es im Labor in Röhrchen herumliegt, dass alles in Ordnung ist.
Ich kratze. Im Nacken und nun auch am Rücken.
Das kann auch was mit dem Alter zu tun haben. Weiß eine Freundin.
Vor Heiligabend, also bevor es anfing, war ich nicht wesentlich jünger als nach Heiligabend. Die Freundin fragt, ob ich neue Produkte benutze, die die Haut nicht verträgt.
Ich habe die Creme nicht gewechselt, kein neues Duschgel, kein neues Waschpulver, keinen neuen Schmuck, der Allergien auslösen könnte, ich habe gar nichts Neues.
Ist das vielleicht das Problem? Ewig beim Alten bleiben?
Ich denke nach und kratze. Im Nacken, am Rücken und nun unter den Schulterblättern. Was habe ich doch für ein Glück, dass ich knackgesunde Schultern habe. Ich erreiche jede Stelle an meinem Rücken. Und kratze nach Herzenslust.
Ist das schon Selbstverletzung? Muss ich zur Psychotherapie? Ach, da bin ich ja schon.
Die Ärztin hat tolle Ideen für ein mögliches Hobby. Töpfern. Oder Yoga
Inzwischen sitze ich bei einer Dermatologin.
Pruritus, sagt sie, nennt man einen solchen Juckreiz, das bedeute: Missempfindung der Haut.
Haben Sie Stress? Ich nicke.
Dann sollten Sie sich jeden Tag eine Stunde nur für sich allein nehmen.
Ich rolle innerlich mit den Augen. Ich habe jeden Tag gefühlt rund 47 Stunden nur für mich. Ich wohne allein, ich bin Rentnerin, also keine Kolleg:innen oder sonstige reale Anforderungen aus dem Arbeitsleben.
Die Hautärztin kommt in Fahrt: Haben Sie eine Badewanne? Dann baden Sie gemütlich eine Stunde lang, stellen Sie Kerzen auf, für die Atmosphäre.
Ich denke an den Film „Ich bin dein Mensch“, in dem ein männlicher Roboter für die Bedürfnisse von Frauen programmiert wird. Etwa 97 Prozent der Frauen mögen angeblich Kerzen und Rosenblätter im Bad. Die wunderbare Maren Eggert, die den Roboter testen soll, gehört zu den drei Prozent, die das nicht mögen. Ich ebenfalls.
Die Ärztin hat weitere Ideen: Ich soll mir ein schönes Hobby suchen. Töpfern. Yoga. Singen. Was Frauen eben so machen.
Ich habe ein schönes Hobby, ich fotografiere. In Auschwitz, Buchenwald, Dachau.
Kein Wunder, dass — Don`t even think, what you would like to think. It´s bullshit.
Ich mache mir Gedanken über meine Haut. Sie ist mein – und Ihr und dein – größtes Organ. Wiegt zehn bis zwölf Kilo und umhüllt bei Erwachsenen eine Körperoberfläche von etwa zwei Quadratmetern. Auf einem Quadratzentimeter gibt es etwa 5000 Sinneszellen, vier Meter Nerven, 100 Schweißdrüsen, 200 Schmerzpunkte, fünf Haare, 25 Druckpunkte, zwölf Kälte- und zwei Wärmepunkte. Hochachtung! Und was kann ich machen, um meine Haut nicht mehr zu spüren?
Sofort funkt meine Haut an mein Gehirn: Regina undankbar und sauer.
Gehirn fragt zurück: Was los?
Ich: möchte aus der Haut fahren!
Haut: beleidigt.
Wir beschreiben Gefühle gerne mit Wörtern, die eigentlich Haut-Sache sind. Jemand hat ein dickes Fell, eine andere kriegt vor Ärger symbolisch Pickel. Es juckt mich in den Fingern vor Ungeduld. Er reagiert angefasst auf Kritik. Das hat sie wiederum sehr berührt.
Woher wissen die Gefühle, was die Haut dazu sagen würde?
Haut, Nerven und Gehirn entwickeln sich beim Embryo aus der gleichen Zellschicht. Wenn wir auf der Welt sind, streckt die Haut ihre Fühler aus, die Nerven schicken die Informationen zwecks Bewertung zum Gehirn.
Kribbeln durch Fliege auf Finger, keine Gefahr. Gänsehaut bei Musik, ach, super! Liebevolle Umarmung, fühlt sich nach Geborgenheit an! Mehr davon. Einer rückt mir ungewollt auf die Pelle. Angst, Ekel, Abwehr. Muss schnell meine Haut retten.
Im Wartezimmer zeigt der Arzt, was er unter Hoffnung versteht: Botox und Faltenreduzierung
Ich suche einen zweiten Hautarzt auf. Diese Praxis ist so fortschrittlich, dass man keine Anamnesebögen aus Papier ausfüllen muss. Es gibt ein iPad.
Wollen wir das gemeinsam machen, fragt mich die Assistentin am Anmeldepult.
Es ist so: Ich habe morgen Geburtstag. Ich werde nicht 20. Ich trage eine Maske, das bedeutet, man sieht null altersbedingte Veränderungen der Haut um Mund und Nase.
Und dennoch sehe ich so aus, als wäre es gut, mir behilflich zu sein?!
Ich nehme das Angebot an und lächele unter der Maske. Wann höre ich mit diesem bekloppten Lächeln auf?
Zum Schluss muss ich mit dem Finger unterschreiben.
„Wie bei der Post, das haben Sie doch sicher schon mal gemacht?“
Wenn Hilfsbereitschaft demütigend wird.
Im Wartezimmer gibt es einen Bildschirm, auf dem „Hoffnung“ dargestellt, wird: Botox, Faltenreduzierung, Hautverjüngung, Laserbehandlungen.
Und die Korrektur einer Falte, die „Merkel-Falte“ genannt wird.
Im Ernst.
Wie respektlos ist das denn?
Gibt es Schröder-Rotwein-Gesichter zur Straffung plus Bleichung in dieser Praxis? Merz-partielle-Glatzen-Restitution?
Ich traue mich nicht, was zu sagen. Es gibt Momente, in denen ich mich gar nicht mag. Dieser ist einer. Ich kratze.
Der Arzt stellt mir die langweiligen Fragen, die ich schon alle selbst abgearbeitet habe: keine neuen Seifen/Bettwäsche/Menschen und so weiter. Er empfiehlt mir eine edle dermatologische Bodylotion. Wie originell.
Ich creme und kratze. Alles hat einen Sinn. Oder?
These 1: Meine Haut sehnt sich nach Berührung. Ich habe kein liebes Leben. Liebesleben. Corona hat den allgemein akzeptierten Rest von körperlicher Nähe gecancelt. Meine Haut fordert Berührung ein, indem sie juckt. Also fasse ich sie an. Beim Kratzen. Ich komme auf die freundliche Idee, sie überall, wo sie juckt, nicht mehr zu kratzen, sondern zu streicheln. Es funktioniert. Eines Tages fällt mir auf, dass nichts mehr juckt.
Dann geht es von vorne los. Mehr Jucken, mehr Kratzen. Hier hilft kein Streicheln mehr. Ich haue meine Fingernägel in die Haut, ich tue mir weh, ich bin aggressiv, gutes Gefühl, bisschen wie ein Orgasmus, wenn es schrecklich schön ist. Oh Gott. Meine Therapeutin hört zu.
These 2: Es ist Krieg ausgebrochen. Ich mag meine Haut nicht mehr. So trocken, so alt, seit wann haben sogar Knie Falten? Ich lese von Frauen um die 50, die leuchten wollen. Und sich schön finden wollen. Macht doch, denke ich, aber beeilt euch und kommt dann mal in mein Alter. Ich kratze mit einer Wut, die ich nicht kannte.
Zwischen vier und fünf Uhr morgens liege ich nun wach. Die Haut, die mich in Form hielt, gefällt mir nicht mehr. Ohne geht auch nicht. Die Haut ist die Grenzlinie zwischen innen und außen, zwischen der Welt und mir.
Ich habe mir nie vorstellen können, dass ich neidisch die nackten Arme von Frauen anglotzen würde. Pralle, seidige Haut.
Meine Therapeutin hört zu.
These 3: Unter dem Pflaster liegt der Strand. Unter der Haut lauert Unausgesprochenes.
Subkutanes Gedöns. Die Haut macht was mit. Sonnenbrände. Weinen. Wind und Wetter. Erfahrungen von Angst. Glücksgefühle. Selbsthass. Zu viel Sport. Zu wenig Sport. Dehnungen. Geburten. Aufgeschnitten werden. Zugenäht werden. Narben. Gewalt. Zärtlichkeit.
Ich frage meine Haut, ob sie mich mit ihrem hartnäckigen Jucken von etwas anderem ablenken möchte. Ob der Juckreiz leichter zu ertragen ist als …
Meine Therapeutin hört zu. Es ist Krieg ausgebrochen. Ich erzähle von langjährigen Beziehungen, die kriseln und zerbrechen. So ist das eben, sage ich. Ich klage nicht. Meine Haut schon. Ach so.
These 4: Ich lese und schaue Bilder vom Krieg in der Ukraine. Ich bin fassungslos. Ich diskutiere. Ich zerreiße symbolisch offene Briefe gegen Waffenlieferungen und unterschreibe symbolisch offene Briefe für Waffenlieferungen. Im Traum sehe ich explodierende Häuser. Ich war nie Pazifistin.
Ich gebe Suppen aus, Suppen mit Fleisch und Suppen ohne Fleisch. Am Hauptbahnhof in Berlin können sich ukrainische Geflüchtete kurzfristig ausruhen, trinken, essen, bevor sie weiterfahren. Oder hier bleiben.
Ich trage die grüne Weste der Volunteers, wir tragen alle Masken, ich lächele so gut und freundlich es geht mit den Augen, ich würde mich gerne unterhalten, ich spreche kein Ukrainisch, ich gebe vier Brotscheiben extra zur Suppe und ganz viel Suppe in ein leeres Gurkenglas, wer weiß, wann es für die Frau mit dem Gurkenglas wieder etwas zu essen gibt. Eine Schicht dauert drei Stunden, danach tun mir die Hüften weh vom Stehen.
Ich habe schon lange nicht mehr an meine Haut gedacht.