Was bis eben noch passend war, greift nicht mehr. Der Körper fordert einen neuen Umgang und die Gesellschaft verändert ihren uns gegenüber. Wir müssen uns neu orientieren. Und kommen zu großen Erkenntnissen
No Future
von Melanie Schehl
Die Mitte des Lebens ist in der Magazin-Kolumne angekommen. Selbst bei Spiegel Online. Frauen schreiben heiter darüber, wie sie versuchen, ihre Weitsicht zu kaschieren, und dass die Hosenmode mit hochgezogenem Bund nicht sitzt. Ich könnte also erzählen, wie der junge Mann in der Yoga-Gruppe mir grinsend die Zutaten auf der Rückseite einer Kaugummi-Packung vorlas, nachdem ich behauptet hatte, es handele sich um einen Fehldruck. Ich könnte weiterhin erzählen, wie ich mir im Restaurant die neue Jeans unter dem Tisch aufknöpfte, und vergaß, sie wieder zuzuknöpfen, weil die gleiche Menge Wein plötzlich anders wirkte als früher. Es ist erschreckend, wenn der Körper macht, was er will, und auch noch der wichtigste Sinn zu schwächeln beginnt. Bergab steht vor dem inneren Auge, in großer Schrift. Dann geht man los, kauft sich eine Brille und eine Jeans mit Elasthan, verdünnt den Wein mit Wasser und wähnt sich gereift. Die Weitsicht, die lacht sich kaputt, weil sie weiß: Das Beste kommt noch. Aber darüber schreibt niemand Kolumnen.
Ich sehe Vergeblichkeiten gestochen scharf
Mit 46 Jahren habe ich zum ersten Mal eine Glühbirne in den Restmüll geworfen. Den Abfall zu trennen, erschien mir vergeblich. Ich sah nicht mehr die drei Klappeimer in meiner Küche vor mir, sondern die Plastikteppiche im Meer und die wuchernden Abfallberge in Rios Favelas. Das passierte nun öfter. Ich sah nicht mehr E-Roller in Büschen liegen, sondern eine verwahrloste Generation. Die Hochzeitsgesellschaft an der Alster feierte unter meinem Blick ahnungslos in eine verstaatliche Lebenslüge hinein, und als meine Freundin ein Archetypen-Seminar buchte, wusste ich sie sicher im Netz der Selbstoptimierung. Es hat übrigens hauchdünne Fäden aus Nylon. Die konnte ich sehr genau sehen. Überhaupt sah ich Überbauten, Generationen, Kreisläufe, Wiederholungen und Vergeblichkeiten gestochen scharf. Und über allem leuchtete der Neonröhren-Schriftzug No Future. Anders als die Sex Pistols rebellierte ich nicht gegen die siebziger Jahre, ich sehnte mich in sie zurück. Ich dachte zärtlich an die BRD. Als schließlich eines Morgens jemand aus meinem sozialen Netzwerk die rechtskonservative Zündelei eines ehemaligen Chefredakteurs teilte, marschierte ich laut schimpfend unter die Dusche. Das war der Moment, in dem ich merkte, dass ich selbst begonnen hatte herum zu marodieren, zu schimpfen und zu poltern – wenn auch am anderen Ufer.
Eine Kolumne über die Mitte des Lebens sollte wie Franz Kafkas Roman Die Verwandlung beginnen: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“ Die Mitte des Lebens erwischt uns kalt mit einem völlig fremden Gefühl. Die Füßchen strampeln plötzlich in der Luft. Mit dem Blick starr an die Decke gerichtet finden sie keinen Halt mehr. Die Welt hat uns über Nacht sitzen lassen. Wir können Teenagern zusehen, was das mit uns macht. Mit Fohlenbeinen und eingezogenen Schultern winden sie sich in ihrem zu engen Kokon, der Blick entrückt und wütend. Sie kämpfen nicht mit Vergeblichkeiten. Sie fremdeln mit dem Unmittelbaren, zu dem sie sich bald anders verhalten werden. Ihr Körper ahnt schon, was der Kopf noch nicht weiß. Jugendliche flüchten gern nach vorn, sehen keine Konsequenzen, suchen das Risiko. Sie sind immer ein bisschen in Gefahr. Wir sehen das, wähnen uns aber in Sicherheit. Wir spüren, dass wir nichts mehr fortpflanzen werden, sehen die Konsequenzen unseres Lebens und das Risiko der Welt. Unsere Gefahr ist die Flucht zurück. Der Rückzug ins Resignierende, Wissende, Häusliche oder Kosmetische – was alles das Gleiche bedeutet: Wir gucken nicht mehr richtig hin. Dabei lohnt es sich. Es ist vielleicht die beste Zeit im Leben dafür. Die Tempojahre sind vorbei. Unsere Zeit für neue Berufungen, andere Leben, Kinder und Künstlernamen ist, wenn nicht abgelaufen, dann doch sehr knapp geworden. Wir sehen zum ersten Mal in Richtung – nun ja, Tod. Es sind nur Momente, und sie erschrecken uns. Wenn wir aber nicht kuschen vor ihnen, passiert etwas Schönes: Wir sehen nicht nur weit, wir sehen auch tief.
Spazieren auf der Wiese zwischen den Gewissheiten
Es gibt nur zwei Arten in unserer Gesellschaft, die Pubertät und die Wechseljahre öffentlich zu beschreiben: als tragisches Defizit – oder als lustiges Defizit. Das Verrutschen der Hormone gilt als milde geistige Behinderung. Franz Kafka sah das anders: „Der Geist wird erst frei, wenn er aufhört, Halt zu sein.“ Wenn Vertrautes uns nicht aufhält, sind wir eher nicht behindert. Wir misstrauen der Welt und der Hoffnung, sind hypersensibel und ein wenig paranoid. Wann also könnten wir uns besser in unser Inneres fallen lassen, auf der großen Wiese zwischen den Gewissheiten herumspazieren?
Kürzlich konnte ich der Teenager-Tochter meiner Freundin ein Wochenende dabei zusehen. Sie kämpfte, sie wand sich und sie schimpfte. Zwischendurch schaute sie auf, zugewandt und glasklar. Ich glaube, sie hat an diesem Wochenende mehr erlebt als wir alle. Seitdem trenne ich meinen Müll wieder und überlege, was ich werden will.
Und nun, Weitsicht für die Ohren!
Songs der Erkenntnis, Einsicht und Erleuchtung. Zusammengestellt von Michaela Gerganoff
#archiv Erstveröffentlichung im Oktober 2020