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Palais F*luxx

Online-Magazin für Rausch, Revolte, Wechseljahre

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Die neuen Leiden von Kurt & Co.

Wenn bekannte Männer an Depressionen leiden, möchten sie öffentlich darüber reden. Weil das irgendwem helfe. Regina Kramer über das Erfolgsmodell Männerdepression

„Wir haben getan, was wir konnten“ heißt passenderweise das Theaterstück des Hamburger Schauspielhauses, dessen Foto wir für die Bebilderung des Dramas der Männerdepression ausgewählt haben. Foto: Arno Declair


Ich atme tief ein. Ich denke an Besuche im Gefängnis. Oder an aktuelle Abschiede am Bahnhof in Lwiw. Eine Hand legt sich von innen an eine Fensterscheibe im Zug, die andere Hand legt sich darüber, von außen. Ich hätte jetzt fast geweint. Sagt der Mann mit der Brille. Und der mit der Mütze hat auch feuchte Augen. Aber das hier ist kein Knast und kein Krieg. Das ist ein TV-Studio. Die Trennscheibe muss sein wegen Corona. Die Männer sind Comedians, jetzt aber Botschafter. It’s a man’s world.
Kurt Krömer. Torsten Sträter. Sie haben sich zwanzig, in Zahlen: 20, Minuten lang darüber unterhalten, dass sie eine Depression hatten, haben, vielleicht wieder haben werden. Dann nehmen die Männer die Hände von der Scheibe, warum fallen mir jetzt Rituale von Blutsbrüderschaft ein? Die Männer schauen sich zwei Sekunden länger als üblich an. Ich glaube, sie sind gerührt. Von sich. Ohne Corona würden sie sich jetzt wahrscheinlich umarmen, d. h., sich gegenseitig auf den Rücken schlagen, dass es knallt, it`s a man`s world. Und dann sagt der mit der Mütze oder der mit der Brille: Jetzt sind wir schon zu zweit.
Ups. Tatsächlich erkranken jedes Jahr 5,3 Millionen Erwachsene hierzulande an einer Depression. 

Was ist denn da passiert? Zwei Männer mittleren Alters, beide gut im Geschäft, erzählen, dass sie Angst haben, darüber zu reden, wie es ihnen geht. Weil tabu. Weil Depression. So doll geheimnisvoll ist diese Erkrankung ja nun auch nicht mehr.
2008 wurde die Stiftung Deutsche Depressionshilfe gegründet.
2009 hat Robert Enke, Fußballtorwart, sich das Leben genommen, weil er seine Depression nicht mehr ausgehalten hat.
2009 haben von der Krankheit Betroffene die Deutsche Depressionsliga gegründet.
2014 hat sich der Schauspieler Robin Williams wegen Depressionen umgebracht.
2018 wurde bekannt, dass sich der Musiker Avicii das Leben genommen hat.
2018 wurde Torsten Sträter, der mit der Mütze, Schirmherr der Deutschen Depressionsliga.

Schirmherr sein aber Angst vorm Reden haben? Ja, was denn nun?

Ein Schirmherr hat Angst, darüber zu reden, wofür er seit vier Jahren seinen Schirm auf- und bereithält? Was mich erstaunt, wird schnell klar:  Es geht nicht um die Depression an sich. Sondern um die Depression am Mann. Male depression. Doesn`t feel good.  Wenn Kurt & Torsten (ihren) Freund:innen oder Frauen zugehört hätten, wenn sie sachkundige Literatur, großartige Romane oder diverse Ratgeber gelesen hätten, wüssten sie das. Na gut, die Titel der Ratgeber sind zuweilen seltsam. „Lebe achtsam“. „Tröste das Kind in dir“. „Waldbaden“. „Mein schwarzer Hund“. Das ist nix für echte Kerle. Und scheint ja auch den Leserinnen nicht wirklich zu helfen. Frauen erkranken doppelt so oft an Depressionen wie Männer.
„Depression ist wie Verliebtsein mit bösen Schmetterlingen, beklopptes Gefühl, wo du denkst: Ich muss gleich kotzen.“ (Herr Sträter)
„Leuten zu helfen, einfach nur, indem man darüber spricht, finde ich einfach total geil.“ (Herr Krömer)  

3,4 Millionen Menschen haben das lustige Gespräch der traurigen Männer auf YouTube bereits angeschaut

Mit Stickrahmen ins Fernsehen

Ich hab‘ mal nachgeguckt, wer am häufigsten die Diagnose gestellt bekommt: Es sind, Überraschung!, Mitarbeiter:innen in Call-Centern. Danach folgen in der Statistik der Krankenkassen Menschen, die in den Bereichen Gesundheit, Soziales, Lehre und Erziehung arbeiten. Also mehr so die Frauenberufe.  Aber auch Mitarbeiter:innen in der öffentlichen Verwaltung und Beschäftigte im Bewachungsgewerbe. Niedergeschlagene Security? Oh! Meistens verschont von Störungen des Stoffwechsels im Hirn sind Hochschullehrer:innen, Software-Entwickler:innen und Ärzt:innen. Von den gewöhnlichen Martins/Franks/Dieters/Tims hört man wenige Nachrichten zum Tiefstand der Seele.  Von denen, die im sogenannten öffentlichen Leben stehen, schon. Weil sie es können, weil sie in dem Metier arbeiten. TV. Verlage. Social Media. Professionelles Mansplaining. 
„Ich bin bekloppt und ich bin nicht der Einzige.“ So hat der Autor Kester Schlenz sein Buch zum Problem genannt. Der Moderator Markus Lanz, der Herrn Schlenz als Gast in seiner Talkshow hatte, fand das Werk „schonungslos offen“. Herr Schlenz litt unter Angststörungen.  Der Autor Till Raether war weniger gut bestückt. Er hatte nur eine „Halbdepression“. Während Frauen da womöglich grübeln, ob sie wirklich und ernsthaft erkrankt sind, machte Till Raether – und sein Verlag und die Medien und seine Leser:innen – ein Erfolgsbuch daraus. „Bin ich schon depressiv oder ist das noch das Leben?“
Welch kokette Frage: Lebendig und sanft sitzt er in einer TV-Morgen-Sendung, erzählt von schwierigen Phasen  und – stickt. Mit einem Stickrahmen. So was hatte ich vor 100 Jahren in einem fucking Handarbeitsfach. Ich habe meinen Namen auf meinen Turnbeutel sticken müssen. Till Raether nadelt Plattencovers nach, davor hat er Landschaftsmotive gestickt. Der Mann, der Krimis, Kolumnen und Sachbücher schreibt, – wer hat behauptet, Depressionen machen lustlos und arbeitsunfähig? –, hat keine Berührungsängste. Er war auch schon virtuell zu Gast bei einem „Strickmich-Sommercamp“. Strickerinnen, sagt er, seien ein ideales Publikum für Lesungen. 
Ich habe vergessen, warum.
Bin ich neidisch?
Aber ja!

Kann bitte auch der Gender Pay Gap übernommen werden!

Würde ich in einer Talkshow auftreten und sticken? Sicher nicht. Bei mir wäre das schrullig und gestrig. Bei Männern ist das modern, ist gendercrossing, fluide und bestenfalls ein großer Spaß. Zeitenwende eben. Wenn Till Raether öffentlich stickt, wertet er dann eine überflüssig gewordene weibliche Tätigkeit auf? Und ist das schon cultural appropriation? Also die Übernahme eines Bestandteils einer Kultur – der Aufgabe weiblicher Personen aus dem Bürgertum, Aussteuer hübsch anzufertigen – vom Träger einer anderen, überlegenen, der männlichen Kultur? Und möchte er dann auch bitte den gender pay gap übernehmen? 18 Prozent weniger Einnahmen für Bucherlöse, TV-Auftritte etc.? Spenden gerne an – mich!

Bin ich ungerecht? Depressionen sind kein Spaß, für niemanden. 
Ich weiß. Zoloft. Citalopram. 
Habe ich was gegen Männer?
Nun,   ****
Ich habe was gegen eine Öffentlichkeit, die Männer bewundert, wenn sie anfangen zu erzählen, wovon Frauen seit ewig schreiben. 
Sylvia Plath, Doris Lessing, Virginia Woolf, Zoë Beck, Terézia Mora.

Grimme-Preis für die Herren

Ich habe was dagegen, dass die männliche Erzählung über Leiden etwas Erhabenes bekommt. Werden Panikattacken, Verzweiflung und der Verlust von Selbst-Sicherheit „echter“, wenn Männer davor in die Knie gehen? Ist es mutig von Kurt/Torsten/Kester/Till sich zu outen? Nein. Mutig, weil mit Nachteilen verbunden, wäre es, wenn sie zum Umsturz der kapitalistischen Gesellschaft aufrufen würden. (Ok, Blödsinn! Revolution war vorgestern.)
Mutig, weil mit Kritik verbunden, wäre es, wenn sie über Ausbeutungsstrukturen in den Medien reden würden. Wenn sie über die berufliche und materielle Unsicherheit der Freiberuflichen sprechen würden. Wenn sie über die Sinnlosigkeit mancher Tätigkeiten oder über den Leistungsdruck sprechen würden, der die Körper und Seelen krank macht und die Selbstachtung untergräbt. Aber weil sie von diesen Nöten – vermute ich – nicht betroffen sind und alle Verheerungen, die eine Depression anstellt, nur im Privaten & Persönlichen ansiedeln, werden sie nicht abgestraft werden. Im Gegenteil: Sie werden von den meisten als „authentische Helden“ gefeiert. Die Frauenbewegung hat seit den 1970er Jahren dafür gestritten, dass das Private auch politisch sei. Die Männer von heute profitieren davon. Auf seltsame Weise. Finde ich.
Im Jahr 2022 ist es keine Palastrevolution, wenn Männer Schwächen zu telegenen und literarischen Events verarbeiten. Es lohnt sich. It´s immer noch a man´s world.
Gerade haben Krömer und Sträter den Grimme-Preis für das Gespräch über ihre Depression erhalten. In der Kategorie Unterhaltung.

Ja, ein Jahr nach der Erfolgssendung kann man schon mal öffentlichkeitswirksam nachfragen

Noch was?
Ja. 
Zwei der hier genannten Männer waren mal meine Kollegen. Schöne Zusammenarbeit. Wirklich.
Verdammt lang her. Nie über so was geredet. Schade. Aber logisch. Weil: verdammt lang her.

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