Irgendwann führt kein Weg drumrum – der Unterwäschekauf. Ella Carina Werner hat ihm ein Kapitel in ihrem neuen Buch „Man kann auch ohne Kinder keine Karriere machen“ gewidmet.
Über die Qual zwischen herrischer Beratung und Gummizug
«Sie sind mir so vom Schlage Schiesser», nickt die Verkäuferin, «oder Typ Trigema.»
Alle zehn Jahre gehe ich in einen Dessousladen und kaufe mir einen Satz neuer Unterwäsche. Freude habe ich nicht daran, aber es muss sein. Die alte Unterwäsche ist bereits ein wenig verschlissen. Was sage ich: zerfasert, zerlumpt, komplett am Ende. Die Ränder sind aufgeribbelt, lose Fäden hängen herab, Metallbügel ragen aus den BH-Körbchen wie Knochen aus einem Kotelett.
Die Liebe muss man lebendig halten. Der Mond schimmert durchs Wohnzimmerfenster. Mein Mann liegt auf dem Sofa, im Schein der schwachen Funzellampe, liest. Ich setze mich auf den Sofarand und spiele am Gürtel meines Bademantels. Auch der Bademantel hat schon Löcher. «Wie wäre es … ich kaufe mir neue Unterwäsche?», raune ich durchs Halbdunkel. «Mir egal», murmelt mein Mann, die Nase weiter im Buch, «ich mag dich auch so.»
Das ist das Problem. Er sollte mich nicht «auch so» mögen. Er sollte Druck auf mich ausüben, mich permanent im Unklaren lassen, wie diese ruchlosen Pick-up-Artists, von denen man ab und an liest. Er sollte mich zum Einkaufen animieren, ja drängen. Er sollte in seine Hose greifen und einen Zweihunderteuroschein hervorziehen oder seine Kreditkarte. «Aus Frottee», sage ich. «Pfefferminzgrün. Könnte kratzen. Vor allem von außen.» Hat er nicht diese Acryl-Allergie? «Mach, mach», gähnt mein Mann und liest weiter. Ich gehe auf die Internetseite eines großen Online-Versandhauses, gebe als Suchbegriff «Slip» ein und erhalte etliche 20 Treffer. Potzblitz, das sind ja über tausend. Dass es auf der Welt so viele verschiedene Unterhosen gibt! Das nenne ich freie Marktwirtschaft. Schwungvoll scrolle ich runter und hoch, doch die Überfülle an Möglichkeiten lässt mich bald erschaudern. So viele Schlüpfer, in allen Farben des Regenbogens, in allen Formen der Geometrie, dass ich mich wie eine Ostdeutsche fühle, zum ersten Mal im KaDeWe. Verwirrend ist auch das Vokabular. Cup? Bei meinem letzten Einkauf waren das noch Körbchen. Dazu Bralettes, Balconette-BHs, Strappy-Bras … neue, spannende Begrifflichkeiten schwirren durch meinen Kopf, gehen mit der halben Flasche Rotwein eine nie da gewesene Mixtur ein. Ich versuche, das Angebot einzugrenzen, tippe ins Suchfeld «flott», «Hauptsache robust» und «wärmt im Winter», aber das reduziert die Treffer schlagartig auf null. Das führt zu nichts. So sitze ich übermorgen noch hier. Es gilt, das Angebot gehörig zu verknappen.
Am nächsten Tag fahre ich zum Dessousladen im Einkaufscenter, da war ich schon vor zehn Jahren. Auch die Verkäuferin war damals schon da, nur weniger alt. Ich beobachte sie durchs Schaufenster: eine energisch wirkende Endfünfzigerin in blassgelber Bluse. Kein Kunde ist im Laden. Gelangweilt nagt sie an einem Kugelschreiber. Ich betrete den Laden. «Hallo», sage ich, «da bin ich wieder!» Die Verkäuferin zuckt freudig zusammen. Ihre dunkelrot bepinselten Lippen öffnen sich. «Einen wunderschönen guten Tag! Kann ich helfen?» «Das ist lieb, aber danke», sage ich, «ich schaue mich erst mal nur um.» Ich grüble über meine Größe, dann greife ich beherzt nach drei Sets, heißt: Unter- und Oberteil passen zusammen. So viel Bürgerlichkeit muss sein. Früher hätte ich das spießig 21 gefunden, aber früher fand ich auch noch nicht Olaf Scholz gut. Ich verschwinde in der Kabine. Der BH ist zu eng. Auch der Schlüpfer, genauer gesagt die «Panty», über meine alte Unterhose gezogen, sieht wenig vorteilhaft aus.
«Und? Schon was an?» Die aufgeweckte Stimme der Verkäuferin durch den Kabinenvorhang.
«Ja. Aber passt nicht so.»
«Soll ich mal gucken?»
«Nicht nötig», sage ich schnell, «ich ziehe das gleich wieder aus.»
«Da muss man immer draufgucken», sagt sie. «Professionell draufgucken. Vier Augen sehen mehr als zwei. Oder kommen Sie ruhig raus, hier ist gerade keiner im Laden.»
«Nein, nein,», sage ich. «Ich bin gerade nackt, ich ziehe mir gerade das andere Set an. Das weiße.»
Zehn Sekunden vergehen. «Und?»
«Auch nichts.»
«Das schöne von Hunkemöller? Das kann nicht sein. Ich komme jetzt doch besser mal gucken. Momentchen!»
Ihre Stimme klingt jetzt bedrohlich nahe. «Ich guck Ihnen schon nichts weg. Ich platze vor Neugier!»
Ich murmele etwas von Privatsphäre, Grundgesetz, Artikel 2, da wird der schwarze Kabinenvorhang bereits zur Seite gezogen.
«Kuckuck!», sagt die Verkäuferin.
Ihr Kopf zwischen dem Vorhangstoff. «Huch», sagt die Verkäuferin. Ihr Blick wandert meinen Körper herab.
«Oh Gottchen, wie sieht das denn aus. Oh nee! Nee, das geht gar nicht. Meine Liebe, das sieht ja wirklich verboten aus. Ziehen Sie das sofort wieder aus!» «Wollte ich ja», murmele ich. «Wenn Sie den Vorhang vielleicht vorher wieder schließen könnten.» Auch das nächste, karierte Wäsche-Set findet keine Gnade. «Auch nix!», stöhnt die Verkäuferin beim Anblick auf. «Das nenne ich mal einen Griff ins Klo.»
Und das Muster des Stoffes harmoniere auch nicht mit der Maserung meiner Schwangerschaftsstreifen. Moment mal, welche Schwangerschaftsstreifen?, denke ich. Flink reicht sie mir etwas anderes hinein, einen «Entlastungs-BH». Früher hieß das Stütz-BH. Ich muss überhaupt nicht entlastet werden, höchstens von diesen neunmalklugen Ratschlägen.
Wieder in Straßenkleidung, streife ich noch einmal gründlich durch den Laden. Unschlüssig irre ich durch die Regalreihen. Nach wenigen Minuten eilt die Verkäuferin herbei, strahlt mich an. «Das ist aber mal ein toller Body!» «Finden Sie? Oh danke», sage ich und sehe stolz an mir herab. «Nee, nee, ich meine doch diesen sündhaft teuren Einteiler hier, von Palmers. Ein Hauch von Nichts.» Ein Hauch von Etwas würde mir aber besser gefallen, erkläre ich, wenn ich hier schon über hundert Euro ließe. Für viel Geld wolle ich auch viel Stoff. «O-kay.» Die Verkäuferin reibt ihre Handflächen aneinander. Was ich denn eigentlich genau suche? Ich denke nach. «Was Flottes», sage ich. «Was Stabiles. Nicht Frottee. Nicht kratzen», präzisiere ich. «Etwas, das praktisch ist. Alltagstauglich.» «Alltagstauglich», wiederholt die Verkäuferin gedehnt. «Puristisch», sage ich.
«Langweilig», präzisiert die Verkäuferin.
«Schnörkellos», sage ich.
«Hässlich», sagt die Verkäuferin.
So kommen wir nicht weiter.
«Okay, noch mal zurück auf Start», sagt die Verkäuferin.
«Fangen wir noch mal ganz von vorne an. Was sind Sie denn überhaupt für ein Typ? Lassen Sie mich überlegen.» Himmel, darüber grüble ich selber schon seit Jahrzehnten, warum soll diese Hobbypsychologin das binnen weniger Minuten wissen? «Ich sage mal… sportlich!» «Sportlich» höre ich in solchen Situationen immer. Ich bin überhaupt nicht sportlich, aber wann immer jemand nach einem Adjektiv jenseits von «feminin» und «schick» sucht, bleibt irgendwie nichts anderes übrig. «Sie sind mir so vom Schlage Schiesser», nickt die Verkäuferin, «oder Typ Trigema.» «Trigema», hebe ich einen Zeigefinger, «ist das nicht die Firma mit dem Affen in Menschenkleidung?» Das fände ich ethisch etwas fragwürdig. Der habe aber nicht in diesen Wäsche-Sets gesteckt, Ehrenwort, sagt die Verkäuferin und hebt eine Hand zum Schwur. Sie hat Geduld mit mir. Sie liebt Herausforderungen, das sieht man ihr an. Schwierige, fast aussichtslose Fälle. Fälle wie mich. «Na gut. Anders gefragt», sagt die Verkäuferin, «was meinen Sie denn selbst, was für ein Typ Sie sind? Nennen Sie mir Ihre wichtigsten Eigenschaften.» Interessante Elementarfrage. So macht Einkaufen Spaß. Ich denke nach. «Vielleicht … zuverlässig», sage ich. «Umgänglich. Sympathisch. Bodenständig.» «Zuverlässig, bodenständig … ach, kommen Sie», sagt die Verkäuferin, «schlummert da nicht in Ihnen doch ein kleines bisschen Restgeheimnis? Haben Sie sich als Frau schon so aufgegeben?» «Na gut», ich überlege noch einmal. «Auch ein bisschen geheimnisvoll. Auf subtile Art extravagant. Auf aufregende Weise schlicht.» «Na also», zwinkert sie. «Nachdenklich», fahre ich fort. Jetzt bin ich richtig drin. «Mit einem gewissen Hang zur … Melancholie.» Mein Blick geht elegisch durch das Schaufenster, bis zum Teelädchen gegenüber. «Und … sozial», ergänze ich. «Politisch. Ja, sehr politisch. Im Herzen Sozialistin!» Die Verkäuferin eilt ins Hinterzimmer, kommt mit einem Wäsche-Set aus rotem Satin zurück. «Na bitte sehr: Modell Loki Schmidt. Rot wie Rosa Luxemburg, aalglatt wie die Reden von Dietmar Bartsch und genäht von schwäbischen Näherinnen über Tarif.» Spaß beiseite, sagt die Verkäuferin: Die Loki habe früher eher schwarze Spitzenunterwäsche favorisiert. Das habe sie von einer befreundeten Verkäuferin im Hanse-Viertel gehört. Ich staune. «Ja, glauben Sie denn, Manuela Schwesig oder Sahra Wagenknecht tragen bügellose BHs aus grobem Leinen, handgenäht in peruanischen Kollektivbetrieben?», fragt die Verkäuferin. «Sogar Petra Pau trägt heute feinstes Tuch.» «Ehrlich, Petra Pau?» Mein Weltbild gerät ins Wanken. «Aber mir gefallen nun mal eher die schlichten Sachen», sage ich und zeige auf einen Baumwoll-BH ohne Bügel. Sie schüttelt die antoupierten Locken. «Der ist nicht gepolstert. Da hängt doch alles. Sie brauchen etwas Gepolstertes.» Ein gut gearbeiteter Push-up-BH lasse die Brüste frontal wie Scheinwerfer in den Raum treten. «Danke, aber das brauche ich nicht.» «Oooh doch!» Wenigstens etwas Bauchkaschierendes, beharrt die Schlaumeierin. «Ein geschlossener Body. Ein hübsches Mieder. Etwas Vorgeformtes.» Wieder so ein neuartiges Wort. Heißt das vorgetragen? Von wem? Von dem Trigema-Affen oder von ihr selbst?
Was denn eigentlich meinem Partner so gefalle, schlägt die Verkäuferin plötzlich einen neuen Pfad ein, sofern ich einen gefunden hätte, worauf meine bisherige Unterwäsche nicht unbedingt schließen lasse. Ich straffe den Rücken und erkläre, meine Kleidung müsse nur mir gefallen, mir allein. Ich sei eine moderne, selbstständige Frau, die genau wisse, was sie wolle, also außer in Unterwäschefragen. «Ich bin Feministin», schiebe ich hinterher. «Also langweilig. Sag ich doch», stänkert die Verkäuferin und bleibt dabei: Ich bräuchte etwas Verführerisches, sofort. «Ich brauche nichts Verführerisches», schnaube ich und ziehe jetzt doch mal meinen Mann als Joker hervor. «Mein Mann begehrt mich auch so! Er begehrt mich», jetzt muss ich es der aufgebrezelten Besserwisserin aber zeigen, jetzt muss ich ein bisschen auf die Kacke hauen, «bis zu fünf Mal am Tag!» Die Verkäuferin lacht noch lauter. «Oho, Sie werden erst wissen, was das Maximum ist, wenn Sie das hier tragen», sie hält mir einen purpurfarbenen Spitzenfummel unter die Nase. «Was meinen Sie, wie er dann über Sie herfällt!» «Wenn, dann falle ich über ihn her», verkünde ich ein wenig zu laut, dass die Rentnerin, die schon in der Tür steht, erschrocken wieder kehrtmacht. «Wir sind ein modernes, emanzipiertes Paar», bekräftige ich. «Zwei Subjekte auf Augenhöhe. Wir handeln das miteinander aus.»
Dann fällt mir noch etwas ein. Angriff ist die beste Verteidigung. Ich wähle die Offensive.
«Was tragen Sie denn eigentlich für Unterwäsche?», erkundige ich mich. Sie hebt die Bluse, zieht die schwarze Satinhose einige Zentimeter nach unten. Ich suche. Und sehe: nichts. «Keine», sagt die Verkäuferin, aber wenn sie das an die große Glocke hinge, wäre der Laden bald pleite. «Alle Achtung», sage ich. Mir sei da gerade noch etwas eingefallen, ergänze ich. Ehe mein Mann und ich, also natürlich wechselseitig und auf Augenhöhe, übereinander herfielen, machten wir vorher meistens schon das Licht aus. «Na, sagen Sie das doch gleich!» Die Verkäuferin taucht hinter einem Regal ab und mit einem neuen Set wieder auf. «Fluoreszierende Unterwäsche» steht in schockfarbenen Buchstaben auf der Verpackung. «Die leuchtet. Wie im Schwarzlichttheater», zwinkert die Verkäuferin. Das ist es. Auch der Preis, 139 Euro 99, das scheint mir mehr als angemessen. Ich probiere das Set sofort an und den sogenannten Petra-Pau-Tanga noch dazu. Alles passt wie angegossen. Ich lass die neue Unterwäsche gleich an, gehe zur Kasse und krame nach meiner Sparkassen-Karte. Nur eine Frage hätte ich noch. «Haben Sie für die hier», ich ziehe aus meinem Rucksack ein verwaschenes Stoffknäuel, «noch irgendwie Verwendung?» «Heiliges Kanonenrohr! Was ist denn das?» «Meine alte Unterwäsche», sage ich, «natürlich frisch gewaschen. Im Autohaus oder im Computerladen nehmen sie ja auch inzwischen alte, noch verwertbare Dinge in Zahlung. Stichwort Upcycling», doziere ich. «Das machen moderne Geschäfte jetzt so.» Die Verkäuferin wiehert los. «Kindchen, die würde ich ja nicht mal als Putzlappen verwenden!» Nicht sehr charmant, aber na gut, beraten kann diese Frau wie keine zweite. Ob ich in den E-Mail-Verteiler aufgenommen werden wolle, fragt sie noch, als sie mit dem Lachen fertig ist. Dann erhielte ich einmal im Jahr eine Erinnerung, dass ich neue Wäsche bräuchte, genau wie beim Zahnarzt. Ob man die Erinnerungsmail auch auf alle zehn Jahre eintakten könne, frage ich. Da sei sie schon in Rente, sagt die Verkäuferin. Wir einigen uns auf sieben. «Bis dahin», rufe ich und winke ihr zu. Jetzt nur noch in der Bäckerei nebenan ein paar Muffins kaufen. Im Muffin kaufen bin ich richtig gut.
Dieser Text ist aus dem im Mai erschienenen Buch „Man kann auch ohne Kinder keine Karriere machen“ der Hamburger Autorin Ella Carina Werner
www.titanic-magazin.de
www.diaryslam.de
Lesungen:
Hier könnt Ihr Ella Carina Werner sehen und hören (ggf. Taschentuch in die Büx, Oberlachalarm!):
08.06.23
Man kann auch ohne Kinder keine Karriere machen – Buchpremiere! Centralkomitee, 20 Uhr, Hamburg
13.06.23
Club Voltaire, 20 Uhr, Frankfurt am Main
15.06.23
Dem Pöbel zur Freude – die Lesebühne Mit Johannes Floehr, Piero Masztalerz, Tobias Vogel @kriegundfreitag und Stargast Jasmin Schreiber im Centralkomitee, 20 Uhr, Hamburg
16.06.23
Man kann auch ohne Kinder keine Karriere machen – Kulturverein elbdeich e.V., 20 Uhr, Moorburg
01.07.23
Man kann auch ohne Kinder keine Karriere machen – Die Heimat-Lesung in der Buchhandlung Lüdemann, Hamburg
11.07.23
Kein Bock auf Karriere: Lesung gemeinsam mit Nadia Shehadeh, 19 Uhr, taz Kantine, Berlin
27.08.23
Festival der Komik, 18.30 Uhr, Frankfurt am Main
13.09.23
Wortpicknick, Planten un Blomen, Hamburg
20.09.23
Man kann auch ohne Kinder keine Karriere machen – Lesung, 19 Uhr, Fischhalle Harburg, Hamburg
21.09.23
Dem Pöbel zur Freude – die Lesebühne mit Johannes Floehr, Piero Masztalerz, Tobias Vogel @kriegundfreitag und Stargast Bernd Begemann, Centralkomitee, 20 Uhr, Hamburg
11.11.23
Man kann auch ohne Kinder keine Karriere machen. Lesung. Druckerei, 20 Uhr, Bad Oeynhausen